Lieblinge des Monats November.
Nächstes Jahr in - Comics und Episoden des jüdischen Lebens
„(Doch) Jüdinnen und Juden sind nicht nur Opfer, ihre Geschichte erzählt nicht nur von Diskriminierung, Vertreibung und Vernichtung. 1700 Jahre Judentum in Deutschland bedeuten auch, dass das Judentum ein großer und bereichernder Teil der deutschen Kultur ist.“ Dieser Satz, der erst auf Seite 163 unter der Überschrift „Jüdisches Leben in der Gegenwart“ zu finden ist, erklärt, warum man sich hier und heute mit jüdischem Leben in Deutschland auseinandersetzen sollte. Es gibt eine Vielzahl von Büchern, vom Sachbuch bis hin zum Roman, die sich dem Thema widmen – und doch ist der 2021 im Ventil Verlag erschienene Comic sehr besonders: In ihm werden nicht nur mehrere Geschichten erzählt, die in jeweils anderen Jahrhunderten angesiedelt sind, sie werden auch mit unterschiedlichen Mitteln erzählt. Denn es sind immer andere Illustrator*innen und verschiedene Herangehensweisen, mit denen das Leben Einzelner beschrieben wird. Bei Mascha Kaleko ist es beispielsweise ein illustriertes Gedicht, bei Fanny Azenstarck gibt es erklärende Bildunterschriften, und um die Jüdische Berufsfachschule Masada zu veranschaulichen, erfindet Hannah Brinkmann das Paar Ziva und Yaakov. Das Buch besteht aus elf sich ergänzenden Beiträgen, dazwischen sind jeweils zwei Doppelseiten mit Hintergrundinformationen.
„Nächstes Jahr in“ ist, nicht nur weil viele Geschichten in Südhessen angesiedelt sind, ein wichtiges Buch, für Erwachsene ebenso wie für Jugendliche!
Ventil Verlag, 978-3-955751-59-3, € 25,00
Mechthild Borrmann: Feldpost
Es ist kurz vor Weihnachten im Jahr 2000. Anwältin Cara bekommt, während einer kleinen Pause im Café, einen alten Koffer mit Briefen anvertraut – und obwohl sie eigentlich besseres zu tun hätte, versucht sie in den darauffolgenden Wochen, die rechtmäßige Besitzerin zu finden. In diese Rahmenhandlung eingebettet erzählt die Autorin Mechthild Borrmann die Geschichte der Geschwister Albert und Adele Kuhn und ihres Freundes Richard Martens während der NS-Zeit. Gerhard Kuhn, der Vater der Geschwister, ist gegenüber der NSDAP kritisch eingestellt, und er macht auch keinen Hehl aus seiner Meinung. Richard Martens Eltern hingegen sind seit Anfang der dreißiger Jahre begeisterte Nationalsozialisten. Die Familien waren früher befreundet, doch die gegensätzlichen politischen Meinungen veränderten das Miteinander. Die Kinder, zu denen auch Richards Schwester Dietlinde gehört, sind jedoch noch lange unzertrennlich, sogar noch als Gerhard Kuhn wegen Sabotage verurteilt wird und ins Gefängnis kommt … Aber ist Richard wirklich in Adele verliebt?
„Feldpost“ ist ein eindrücklicher Roman, der anschaulich und nachvollziehbar erzählt, wie das Miteinander während des Nationalsozialismus war. Adele, Albert und Richard gehen unterschiedliche Wege, arrangieren sich notgedrungen – aber ihre Freundschaft trägt. Über den Erzählstrang in der Gegenwart bekommt das Buch einen aktuellen Beiklang: Er zeigt auf, dass die Vergangenheit immer noch und immer wieder Einfluss nimmt aufs Heute.
Mechthild Borrmann kommt am 06.11.23 zur Lesung nach Gernsheim: Das wird ein interessanter Abend!
Verlag Droemer Knaur, 978-3-426-30609-3, € 11,99
Jochen Frickel: Das Wettrennen der Fichtenstämme
Im Herbst des Jahres 1903 sitzt der Mainzer Holzgroßhändler Balthasar Nauth im Dordrechter Büro seines Geschäftspartners Adriaen Jongeneel. Die beiden haben schon über viele Tausend Festmeter Holz verhandelt, denn Holland benötigt wegen des wasserreichen Untergrunds Unmengen gerade gewachsene Fichten und Tannen – und die werden über den Rhein dorthin geflößt. Ungewöhnlich ist die Absprache, die die beiden an diesem Tag treffen aber doch, denn Jongeneel benötigt ungewöhnlich viel Holz zu einer ungewöhnlich frühen Zeit im nächsten Jahr. Nauth sagt die Lieferung zu. Und verfällt darauf, zwei seiner Holzlieferanten in einer Wette gegeneinander antreten zu lassen, um diesen Termin halten zu können. Es steht ein hoher Gewinn im Raum und scheint für die beiden Kontrahenten eine relativ sichere Sache zu sein. Doch dann wird im Main ein Toter gefunden …
Jochen Frickels Buch ist rundum gelungen! Da gibt es eine kluge, logische aber nicht vorhersehbare Krimi-Handlung – und diese ist eingebettet in ein historisches Setting, das eigentlich noch nicht lange her und mit dem heutigen Blick trotzdem vollkommen ungewöhnlich ist. Durch die Ergänzung mit Bildmaterial, Fußnoten und (nicht aufdringlichen!) Erklärungen gelingt es dem Autor, uns wirklich viel Wissen zu präsentieren. Und doch ist „Das Wettrennen der Fichtenstämme“ vor allem wirklich gute Unterhaltung!
RR Verlag, ISBN 978-3-943580-43-3, € 15,00
Kari Köster-Lösche: Das Julfest
Thorke vom Lorenzen-Hof ist zum Julfest in diesem Jahr alleine, Eltern und Bruder Oke verbringen diese Winterwochen in der Sonne Mallorcas. Eigentlich mag sie das sehr gerne – kann sie doch mit Puken, Tonttut, Klaubautermännern und wie sie sonst noch heißen reden. Ihr Vater Jonte, der sonst für die Grütze nach Geheimrezept zuständig ist, kann das nicht, er kocht den süßen Brei einfach und freut sich, wenn er leer ist. In diesem Jahr ist es nun Thorke, die das Kleinvolk versorgen soll. Und Jonte hat, vielleicht weil er in Gedanken schon im Urlaub war, zur Einladung auf den Hof keine Personenbegrenzung geschrieben. So hat Thorke viel mehr zu tun, als gedacht. Dass die Tomte aus Schweden fehlen, das fällt erst ziemlich spät auf. Was ihnen wohl passiert ist?
„Nordische Weihnachten mit Tomte, Puken und anderen Zauberwesen“ – so lautet der Untertitel. Ich war mir gar nicht sicher, ob sich das Buch an Erwachsene wendet, es hätte durchaus ein Buch für Kinder sein können. Während ich es mit Genuss „verspeist“ habe, war relativ schnell klar, dass Kinder einen ziemlich langen Atem brauchen (würden). Es liegt nun also bei den vorweihnachtlichen Erwachsenenbüchern und ja, nach dem Lesen fühlt man sich deutlich festlicher.
Aufbau Verlag, 978-3-352-01003-3, € 14,00
Luna McNamara: Psyche und Eros
Psyche ist das späte, geliebte Kind ihrer Eltern; und da das Orakel in Delphi vorausgesehen hat, dass dieses Kind heldenhaft würde, lehrt ihr Vater sie zu reiten, mit Pfeil und Bogen zu schießen und anderes, was eine Heldin braucht. Auch wenn Dienerschaft und Dorfgemeinschaft munkeln. Eros hingegen ist als Gott entstanden. Als Zeus neue Gottheiten erschafft und sich die alten untertan macht, endet sein freies, selbstbestimmtes Leben, Eros muss nun Aphrodite dienen. Seine Fähigkeit, mit Hilfe seines Pfeils Verlangen und der Liebe zu entfachen, bleibt bestehen. Aus Unachtsamkeit trifft dieser Pfeil statt Psyche ihn selbst – und so nimmt die große Liebesgeschichte von Eros und Psyche ihren Lauf …
„Ich habe mich entschieden, nicht länger auf ein gutes Ende für Psyche und Eros zu warten – ich habe mein eigenes geschrieben.“ Mit einem Satz beschreibt die Autorin Luna McNamara ihren Roman über den Gott Eros und die Sterbliche Psyche. Ihr Gerüst stimmt dabei in vielen Punkten mit der griechischen Mythologie überein – aber sie hat den beiden eben auch ein Happy End eingeschrieben. Vorher breitet McNamara auf rund 400 Seiten alles aus, was man aus der Mythologie kennt, jedoch mit ganz anderen Schwerpunkten, in einigen Fällen auch veränderten Charaktereigenschaften und Familienverhältnissen. Herausgekommen ist eine großartige, süffig zu lesende, ungewöhnliche Liebesgeschichte in einer fremden, märchenhaften Welt, die auch junge Erwachsene schon genießen können.
rütten & loening, Übersetzung: Anne-Marie Wachs, 978-3-352-00988-4, € 22,00