Lieblinge des Monats September.
Nora Markard / Ronen Steinke: Jura not alone
Was schützt unsere Demokratie? Wo ist sie angreifbar? Wie könnte man vorgehen, um sie nach und nach, in vielen kleinen Schritten umzubauen? Gibt es dafür Blaupausen aus anderen Ländern? „Demokratie – Wie stabil sind wir gegen eine Übernahme von rechts?“ ist eines der zwölf Kapitel in diesem Buch. Nora Markard und Ronen Steinke beschreiben darin sehr anschaulich und verständlich, wie die Demokratie in Deutschland „funktioniert“ – und was wir tun müssen, dass sie das auch weiterhin tut. Ein weiteres Kapitel betrifft den Klimaschutz, hier sind es keine oder nur wenige inländischen Gesetze, die juristische Handhabe für mehr Schutz geben. Im Beitrag über Eigentum geht es auch um das Recht auf Rückgabe von während der NS-Zeit widerrechtlich erworbenen Besitz.
„12 Ermutigungen, die Welt mit den Mitteln des Rechts zu verändern“, so lautet der Untertitel dieses Buches. Manchmal sind diese Ermutigungen „nur“ Teil des Beitrages, im Kapitel Demokratie zum Beispiel sind die Szenarien durchaus verstörend. Mir scheint es notwendig, das auszuformulieren – denn wir müssen genau kennen, was wir zu schützen wünschen. Genau darum empfehle ich dieses Buch (das in Teilen unter Mitwirkung von Eva Maria Bredler und Valentina Chiofalo entstanden ist) gerade jetzt.
Campus Verlag, 978-3-593-51850-3, € 25,00
Kira Mohn: Die Nacht der Bärin
Jule flüchtet nach einem heftigen Streit mit ihrem Freund zu ihren Eltern. Ein bisschen graut ihr davor, sich deren Fragen stellen zu müssen – doch es kommt ganz anders. Durch ein Telefonat erfährt ihre Mutter Anna vom Tod der eigenen Mutter, der Oma, die Jule nie kennengelernt hat. Jule überredet sie, deren Haus zumindest zu besichtigen, und so fahren sie gemeinsam los. Eine Reise in die Vergangenheit beginnt, die auch Jules Beziehung beeinflussen wird.
Die zweite Ebene spielt in den ausgehenden 80er Jahren, hier erzählt Jules damals 12-jährige Tante Maja (von der Jule noch nie gehört hat) von wundervollen Stunden voller Phantasie im Wald gemeinsam mit Anna. Und von entsetzlichen Stunden mit dem gewalttätigen, narzisstischen Vater. Als Anna sich in Jan verliebt und Jan sich in Anna, eskaliert die Situation …
Kira Mohn schreibt diese in manchen Stellen schwer erträgliche Familiengeschichte vollkommen nachvollziehbar, und da ist auch kein Wort zu viel. Zwischen den Kapiteln gibt es jeweils Seiten mit nur einem oder zwei Sätzen - alles Sätze, die vor Narzissmus triefen und den Gegenpart klein und unfähig machen. Im ergänzenden Nachwort gibt es sehr genaue Hinweise, wie Abhängigkeiten entstehen und warum es so schwer ist, gewalttätige Beziehungen zu verlassen. „Die Nacht der Bärin“ ist ein herausragendes Buch über Gewalt in der Familie, welches kein bisschen schnulzig ist, auch wenn der Klappentext uns das weißmachen will.
Verlag HarperCollins, 978-3-365-00655-9, € 24,00
Michael Wagner: Himmelfahrt. Höllenfahrt.
Unfall mit Todesfolge, Fahrer unbekannt – was so nüchtern klingt, ist für die Familie des 10-jährigen Opfers Michaela vollkommen unfassbar. Auch Sabine, die mit Michis großer Schwester Christine befreundet ist, ist außer sich. Und so sitzt sie aufgelöst vor Theo Ketterlings Wohnung, als dieser von der Beerdigung seines Bekannten Kurti nach Hause kommt. Die Polizei sieht wenig Möglichkeiten, den Unfallfahrer zu finden, es ist schnell klar, dass das Trio Lieselotte Larisch, Theo und Sabine ermitteln muss. Lieselotte Larisch – die Theo auch Chefin nennt, obwohl er als Frührentner natürlich keine Chefin hat – sucht das Gespräch nicht nur mit der Familie, sondern mit dem ganzen Dorf und entdeckt bald, dass an Christi Himmelfahrt vor 10 Jahren schon einmal ein Unglück die Familie traf. Gibt es einen Zusammenhang?
Der 70er-Jahre Krimi – so lautet der Untertitel zu diesem eher beschaulichen Kriminalroman. Und 70er-Jahre-Feeling gibt es hier satt: vollgerauchte Räume, schwierige Absprachen mithilfe Telefonzellen, fleischlastige Hausmannskost und orange Badfliesen sind das eine; der Umgang miteinander das andere. Ein bisschen erinnert mich das Erzähltempo und der Aufbau an einen Freitagabendkrimi, das hat mir reichlich Vergnügen bereitet. Und Theo Ketterlings Verwicklung in den Fall, die ihn vielleicht Sabines Zuneigung kosten wird, ist gut und glaubhaft mit der Handlung verwoben.
(Auch wenn das schon das vierte Buch dieser Reihe ist: Das kann man gut solo lesen, die Charaktere werden erklärend aber unaufdringlich eingeführt. Und man bekommt auch keine Infos über alte Fälle – die Reihenfolge der Lektüre ist beliebig …)
Landwirtschaftsverlag, 978-3-7843-5652-5, € 15,00
Rónán Hession: Leonard und Paul
Leonards Welt scheint nach dem Tod seiner Mutter zu schrumpfen. Sie hatten ein gut ausgewogenes Miteinander gehabt, getragen von gemeinsamen Interessen und Zuneigung – nun ist sein Alltag reichlich einsam. Alleinsein macht ihm eigentlich wenig aus (er ist eh‘ ein leiser, nachdenklicher Mensch und auch sein Beruf als Texter für Kinderlexika ist nicht sehr kommunikativ), doch seitdem sie tot ist, findet er sich fast jeden Abend bei seinem Freund Paul ein. Bei Brettspielen erörtern sie wissenschaftliche Problemstellungen während Pauls Mutter lange Telefonate mit seiner Schwester Grace führt, die von eigenen Hochzeitsvorbereitungen vollkommen eingenommen ist. Als Leonard in seinem Großraumbüro Shelley kennenlernt, ist er nicht sicher, ob sie Flirtversuche mit ihm gestartet hat oder wirklich so unbefangen ist. Er beschließt, das herauszufinden … Und auch für Paul ändert sich langsam aber unaufhaltsam alles.
Wer viel Handlung oder große Spannung erwartet, der sollte ein anderes Buch aufschlagen: Leonard und Paul erzählt in mäandernder Sprache vom Lebensalltag zweier Introvertierter, die tiefgründige Gespräche miteinander führen können, weil sie eine verlässliche Freundschaft verbindet. Die aber beide, jeder auf seine Art, erkennen, dass es für ein gutes Leben doch mehr als zwei, drei, vier Personen braucht. Das Ganze hat reichlich Charme, ein bisschen rosa Glitzer – und lässt uns nach der Lektüre mit wohligem Gefühl zurück.
Dumont Buchverlag, 978-3-7558-0500-7, € 14,00
Eva Rottmann: Fucking Fucking Schön
Eva Rottmann lässt zwölf Menschen zwischen 15 und 20 über ihre Erfahrungen mit Sex erzählen. Wobei die Betonung nicht auf dem Körperlichen liegt, auch wenn es selbstverständlich Bestandteil des Buches ist. Es geht ihr vor allem um das Gefühlschaos dahinter, die Unsicherheit, die Selbstwahrnehmung und die Reaktionen des Gegenübers – vor allem aber um die Notwendigkeit, zu sich selbst zu stehen.
Den Anfang macht übrigens eine Geschichte über ein Pornovideo, das Grundschüler sehen. Ein kluger Buchbeginn, denn genau diese Kurzvideos, abgespielt auf dem Handy, sind mittlerweile für Kinder viel zu oft Einstieg ins Thema.
Zwischen den einzelnen Geschichten ist jeweils eine Seite, die eher erklärend ist (z. B. Drei Kategorien Wörter über Sex / Warum ist Pussy ein Schimpfwort? - der Klappentext des Buches ist auch eines dieser "Zwischenspiele").
Die Autorin schafft es, sehr verschiedene Menschen sprechen zu lassen und jedem eine eigene Stimme zu geben. Das ist nie anzüglich, sondern eher sachlich und trotzdem nahbar und dabei erstaunlich authentisch. Mir gefällt auch gut, dass das alles in einer kleinen Stadt zu spielen scheint, denn die Erzähler*innen tauchen in den anderen Geschichten oft als Nebencharaktere auf. Queerness und gleichgeschlechtliche Liebe sind einfach da, da wird kein Ding draus gemacht, es wird einfach erzählt.
Absolute Empfehlung von meiner Seite aus!
Verlag Jacoby & Stuart, 978-3-96428-243-9, € 16,00