Unsere Sachbuch-Lieblinge in 2024:
Nora Markard / Ronen Steinke: Jura not alone
Was schützt unsere Demokratie? Wo ist sie angreifbar? Wie könnte man vorgehen, um sie nach und nach, in vielen kleinen Schritten umzubauen? Gibt es dafür Blaupausen aus anderen Ländern? „Demokratie – Wie stabil sind wir gegen eine Übernahme von rechts?“ ist eines der zwölf Kapitel in diesem Buch. Nora Markard und Ronen Steinke beschreiben darin sehr anschaulich und verständlich, wie die Demokratie in Deutschland „funktioniert“ – und was wir tun müssen, dass sie das auch weiterhin tut. Ein weiteres Kapitel betrifft den Klimaschutz, hier sind es keine oder nur wenige inländischen Gesetze, die juristische Handhabe für mehr Schutz geben. Im Beitrag über Eigentum geht es auch um das Recht auf Rückgabe von während der NS-Zeit widerrechtlich erworbenen Besitz.
„12 Ermutigungen, die Welt mit den Mitteln des Rechts zu verändern“, so lautet der Untertitel dieses Buches. Manchmal sind diese Ermutigungen „nur“ Teil des Beitrages, im Kapitel Demokratie zum Beispiel sind die Szenarien durchaus verstörend. Mir scheint es notwendig, das auszuformulieren – denn wir müssen genau kennen, was wir zu schützen wünschen. Genau darum empfehle ich dieses Buch (das in Teilen unter Mitwirkung von Eva Maria Bredler und Valentina Chiofalo entstanden ist) gerade jetzt.
Campus Verlag, 978-3-593-51850-3, € 25,00
Volker Mehnert / Paulina Eichhorn: „Der Traum vom Gold“
In kurzen Portraits erzählt Volker Mehnert in diesem Buch nicht nur von Erstplatzierten – sondern auch von Hingabe und Liebe zum Sport, von Fairness und persönlichem Wachstum. Und genauso von leider immer wieder vorkommendem Rassismus und Übergriffigkeiten, von Flucht und Unglück und psychischen Problemen. All das wird absolut wohlwollend und freundlich über die Sportler*innen berichtet, man erfährt viel über Hintergründe und kommt ihnen für die Kürze der Beiträge erstaunlich nah. Die eindrucksvollen Illustrationen von Paulina Eichhorn ergänzen die Texte vielfältig und sehr gut.
„Der Traum vom Gold“ ist ein rundum tolles Buch für Menschen ab 10 Jahren (ja, auch für Erwachsene!), in dem es nicht nur um die Olympischen Spiele geht, sondern um die unterschiedlichsten Wettkämpfe von Boxen bis Schach.
Der Prolog erzählt übrigens von den Olympischen Spielen 1900 in Paris: Weil der erwachsene Steuermann im Boot zu schwer ist, holen die Ruderer Brandt und Klein einen Zehnjährigen von der Straße, der „einfach gerade aus lenken“ soll. Sie gewinnen mit hauchdünnem Vorsprung das Rennen – und vergessen, den Namen des jungen Steuermannes zu notieren. Dieser unbekannte Junge war und ist der jüngste Olympiasieger aller Zeiten … Das Buch ist ihm gewidmet und das finde ich bezaubernd.
Gerstenberg Verlag, 978-3-8369-6232-2, € 24,00
Mike Hofmaier: Verfassung verstehen – Das Grundgesetz in Infografiken
Am 23. Mai 1949 wurde in einem feierlichen Festakt unsere Verfassung verkündet. Zuvor hatten sie 66 Männer und 4 Frauen über nahezu ein Jahr im Parlamentarischen Rat gemeinsam erarbeitet (wobei die fünf Delegierten aus Westberlin keine Stimmberechtigung hatten). Dieser Tage feierte unser Grundgesetz also 75. Geburtstag und das war und ist ein guter Grund, sich intensiver damit zu beschäftigen. Nun ist es durchaus fordernd, reine Gesetzestexte zu lesen – sie haben eine ganz eigene Sprache und eine sich nicht immer erschließende Logik.
Hier kommt Mike Hofmaiers Buch ins Spiel: Es bietet einen eigenwilligen und sehr greifbaren Zugang zu den Texten. Nicht, indem Hofmaier einzelne Sequenzen in andere, leichtgängige Sprache überführt. Sondern indem er das Augenmerk auf das „Dahinter“ legt. Zum Beispiel, in dem er anhand eines Zeitstrahles darstellt, wann was passiert ist nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, um dann anschließend die Entwicklung der Artikel 1 und 2 vom ersten Entwurf bis hin zum Gesetzestext aufzuzeigen. Und im nächsten Kapitel auszuloten, was sich in den 75 Jahren verändert hat. Besonders gut gefällt mir auch Kapitel IV, in dem die Grafiken darstellen, wie vielen Rechten Pflichten gegenüberstehen, welche Rechte auf die Einzelperson Anwendung finden, und welcher Artikel überhaupt welches Recht verhandelt.
Das ist ein Buch, mit dem man sich gerne und intensiv beschäftigt. Und bei dem man günstigstenfalls auch die Verfassung als Gesetzestext daneben liegen hat. Unbedingte Empfehlung!
Verlag Hermann Schmidt, 978-3-8743-9846-6, 39,80 €
Patricia Cammarata: Musterbruch
Frauen und Männer sind gleichberechtigt – das besagt unser Grundgesetz. Aber wir alle wissen, dass dies eher ein Ziel ist als gelebter Alltag. Und das hat auch damit zu tun, dass unser aktuelles Leben und Denken beeinflusst ist durch das Leben und Denken der Menschen, die vor uns gelebt haben. Sie haben quasi die Weichen gestellt und wenn wir nicht mitsteuern (oder gegensteuern), fahren wir weiterhin in die gleiche Richtung. Dass dieses Steuern für alle wichtig ist und auch alle davon profitieren, das zeigt Patricia Cammarata in ihrem Buch „Musterbruch“.
Die Kapitel-Überschriften lauten von „Wo das Ungleichgewicht nicht herkommt“, „Solidarität als Waffe“, „Familie anders denken“, „Reden lernen“ oder „Stereotype überwinden ist für alle schwer“ bis hin zu „Eigene Standards setzen“. Jedes Kapitel ist einem Bereich der Gleichberechtigung gewidmet, es beginnt mit einer Bestandsanalyse anhand von Statistiken und anderen harten Fakten. Immer kommen auch persönliche Geschichten – nicht nur der Autorin, sondern von sehr vielen ganz unterschiedlichen Menschen – zur Sprache, das macht es sehr angenehm zu lesen. Nach der Bestandsanalyse kommen Änderungsvorschläge; und dann schließt jedes Kapitel mit einer Kurzzusammenfassung ab.
Wir leben tatsächlich ziemlich gleichberechtigt, die Fürsorgearbeit ist gut verteilt, wir haben Bedürfnisse und Bedürftigkeiten sehr wohlwollend im Blick. Und trotzdem habe ich dieses Buch mit großem Erkenntnisgewinn gelesen, denn in vielen Denk- und Handlungsmustern habe ich mich erkannt und kann nun bewusster agieren. Wie hilfreich Cammaratas „Musterbruch“ in weniger gleichberechtigten Beziehungen sein kann, das kann ich mir auch durchaus vorstellen. (Das letzte Kapitel lautet übrigens „Politisch sein“ …)
Beltz Verlag, 978-3-407-86775-9, € 21,00
„Das Handbuch für nachhaltiges Reisen“
Praktische Tipps und Inspirationen für den achtsamen Traveller: so lautet der Untertitel zu diesem wirklich hilfreichen Buch. Wir alle können unser Leben einfach mit „Sesselreisen“ füllen, will heißen, mit Reiseerzählungen und Romanen in die ganze Welt reisen – aber manchmal will man ja wirklich weg. Zu wissen, wie man das möglichst umweltverträglich und nachhaltig bewerkstelligen kann, ist ausgesprochen hilfreich.
Das Handbuch beginnt mit einem kleinen Überblick, was nachhaltiges Reisen überhaupt bedeutet, woran man Greenwashing erkennt – und dann steigt das Buch schon konkret in die Reiseplanung ein. Von co2-Ersparnissen bei der Anreise über die Hotelsuche bis hin zehn Öko-Reise-Vorschlägen gibt es zahlreiche Tipps. Im anschließenden Kapitel „Unterwegs“ lassen sich die Autoren dann über praktische Dinge wie plastikfreies Reisen, Kinderschutz und Citizen-Science aus und schlagen außerdem verschiedene konkrete Touren vor. Und das letzte Kapitel bietet dann schöne Inspirationen fürs eigene Zusammenstellen. Alles ist übersichtlich und klar gegliedert, ein Register am Schluss rundet das Buch ab. Dieses Handbuch ist nicht nur für die eigene Urlaubsplanung wirklich hilfreich – ich finde es auch als Geschenk für z. B. die Volljährigkeit sehr passend.
Bruckmann Verlag, Reihe lonely planet, 978-3-7343-2075-0, € 19,99
Stefanie Sargnagel: Iowa
Kennen Sie Grinnell? Das ist eine 8000-Seelen-Stadt in Iowa, mitten im mittleren Westen. Eigentlich mitten im Nichts … Zumindest wenn man kein Auto hat. Denn es gibt nur den Greyhound, der morgens um 7 Uhr in Grinnell hält. Allerdings gibt es ein paar Geschäfte – und vor allem ein liberales College. Dort soll Stefanie Sargnagel einen Kursus für Creative Writing geben, für sechs Termine ist sie gebucht. Sie fliegt gemeinsam mit der Musikerin Christiane Rösinger in die USA; einen Großteil der Zeit verbringen sie gemeinsam in einem kleinen Haus, dass das College seinen Gastdozent*innen zur Verfügung stellt.
Um viel mehr als ihren Alltag in Grinnell geht es gar nicht in „Iowa“. Muss es auch nicht, denn Stefanie Sargnagel weiß genug zu erzählen: Vom Einkaufen in Riesensupermärkten und Second-Hand-Läden, Besuchen im Casino und bei den Amanas, dem Unterrichten an der Uni und Begegnungen mit Amerikaner*innen. Alles das kommt leichtfüßig daher, mit reichlich Humor und Bodenständigkeit. Sargnagel hat ganz klar einen europäischen und auch feministischen Blick, doch sie stürzt sich ins Abenteuer Amerika mit Neugier und Wohlwollen – und das spürt man in jedem Satz dieses klugen Buches. Die Fußnoten von Christiane Rösinger sind dazu die perfekte Ergänzung.
Rowohlt Verlag, 978-3-498-00340-1, € 22,00
Uwe Wittstock: Februar 33 – Der Winter der Literatur
Erich Maria Remarque ist am 28. Januar 1933 der erste, der Deutschland verlässt und während der Nazi-Zeit nicht mehr zu Besuch kommt. Thomas Mann bricht am 11. Februar zu einer Lesereise auf, von der er nicht mehr zurückkommen wird. Carl von Ossietzky bleibt sehenden Auges in Deutschland und wird das mit seinem Leben bezahlten. Alfred Kerr hindern auch 39 Grad Fieber nicht daran, schnellstens seinen Koffer zu packen und zum Bahnhof aufzubrechen. Heinrich Mann tut am 21. Februar so, als würde er zu einer Tagesreise aufbrechen, dabei ist seine Flucht genauestens durchgeplant.
Uwe Wittstock hat ein wichtiges Sachbuch geschrieben; über nicht viel mehr als den einen Monat, den Hitler und die NDSAP benötigten, um den gesamten Literatur- fast sogar Kulturbetrieb aufzulösen. Obwohl Hitler noch kein Reichskanzler war, gab es Verhaftungen und zahlreiche kritische, sozialistische oder kommunistische Veranstaltungen, die „einfach“ nicht durchgeführt werden konnten; es gab Schlägertrupps und Repressalien. Wittstock erzählt in kurzen Sequenzen von einzelnen Größen der Literatur, seine Sprache ist zurückgenommen aber bildhaft. Das ist wirklich interessant zu lesen – er baut Brücken zwischen den einzelnen Menschen, ein ganzes soziales Gefüge entsteht vor unserem inneren Auge. Das alles ist erschütternd zu lesen, denn schon im Februar 1933 war abzusehen, wie menschenverachtend und entsetzlich Hitler seine Macht nutzen würde.
C. H. Beck, 978-3-406-81497-6, € 16,00
Walter Trier: V for Victory
Vielleicht sagt Ihnen der Namen Walter Trier nichts – aber ich bin sicher, dass Sie schon Zeichnungen von ihm gesehen haben: Eigentlich alle Kinderbücher von Erich Kästner hat Walter Trier illustriert. Heute ist der Name Kästner ungleich bekannter, doch zum Beginn der Zusammenarbeit war Trier der Prominente. Seine Bildgestaltung und die leuchtenden Farben sind unverkennbar – aber vor allem zeichnete ihn die Fähigkeit aus, mit wenigen Pinselstrichen Menschen eindeutig zu charakterisieren und Umstände deutlich zu machen. In der Weimarer Republik war Trier auch für seine politischen Satiren bekannt, was ab 1933 zu vielen Umzügen und schließlich 1936 zur Flucht nach London führte. Auch hier nutzte er sein Können hauptsächlich für Satire.
„V for Victory“ wurde in seinem Nachlass entdeckt. Obwohl es eine Vielzahl von Flugblättern gab, die in Großbritannien erstellt und gedruckt wurden, um sie über Hitler-Deutschland abzuwerfen, scheint Triers Faltblatt nicht aus diesem Grund entstanden zu sein – die Botschaft „wir werden überdauern“ ist deutlich subtiler als das damals übliche „wir werden Euch vernichten“. Der erste Teil ist eine kurze Analyse der V-Bildreihe. Darüber hinaus finden sich in dem hier empfohlenen Buch eine kurze Biografie sowie viele Illustrationen von Walter Trier und es lohnt sich, es immer wieder hervorzuholen.
Favoritenpresse, 978-3-96849-094-6, € 14,00
Martin Klingst: „100 Seiten Menschenrechte“
„Wenn Demokratien die Menschenrechte nicht einhalten, wer sollte sie dann noch achten? Vor allem um auf dies Problematik aufmerksam zu machen, schreibe ich dieses Buch.“ So steht es auf der Rückseite des Buches von Martin Klingst. Zum 75. Geburtstag der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ am 10. Dezember 2023 schien es mir passend, mich näher mit dem Thema zu befassen – und mit der Reihe „100 Seiten“ des Reclam-Verlages habe ich bisher nur gute Erfahrungen gemacht. Der Reihentitel ist Programm, wir Leser*innen erhalten trotz der Kürze aber alle relevanten Informationen zur jeweiligen Materie. Die Auswahl der Titel ist groß und geht von „ABBA“ über „Astrophysik“ und „Mittelalter“ bis „Wasser“.
Klug ist auch dieses Buch hier: Klingst zählt die Menschenrechte nicht einfach auf oder liefert kurze Erläuterungen zu den einzelnen Punkten. Vielmehr beschreibt er die historische Entwicklung – um dann darauf einzugehen, was in den letzten 75 Jahren passiert ist. Er stellt dar, welche Schwierigkeiten es gab und gibt, wie dagegen angegangen werden kann. Und auch, wieso wir uns die Allgemeingültigkeit immer wieder ins Gedächtnis rufen müssen. Besonders interessant fand ich darüber hinaus, dass auch ein „zuviel“, eine Überfrachtung, nicht dienlich ist. Der Klappentext schließt: „Die Menschenrechte müssen stets aufs Neue errungen und verteidigt werden.“ Und genau das macht der Jurist und Journalist Martin Klingst sehr deutlich.
Reclam Verlag, 978-3-15-020422-1, € 10,00