Die wöchentlichen Bücherchecks - 2019 - Buchhandlung und Verlag Bornhofen in Gernsheim am Rhein

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hr-iNFO Bücherchecks in 2019:  

hr-iNFO Büchercheck vom 24.01.2019 - Paolo Giordano: „Den Himmel stürmen“

Wenn sie nicht in Apulien lebten, hätte man sie sich auch im Hambacher Forst vorstellen können. Eine Gruppe junger Leute, die das Abholzen alter Bäume verhindern will. Mit Blockade und Sabotage, mit ihren Körpern aber auch mit selbsterzeugtem Sprengstoff. Bernardo, kurz Bern, die Hauptfigur, baut sich sogar ein Nest in einem Baum. Doch es sind keine Eichen und Buchen, sondern Olivenbäume. Sie sollen für einen Golfplatz weichen. Am Ende gibt es einen toten Polizisten, den Cousin Berns. Bern steht unter Tatverdacht.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Wie konnte es zu dieser Tragödie kommen? Das erzählt Giordano aus der Perspektive Teresas. Als junges Mädchen kommt sie regelmäßig mit ihrem Vater aus Turin nach Apulien, um die Ferien im Landhaus ihrer Großmutter zu verbringen. Dort lernt sie Bern, seinen Cousin und einen dritten Jungen kennen, die auf dem Nachbarhof leben. Die drei Jungen treten auf wie Brüder. Doch nur Nicola, der spätere Polizist, ist tatsächlich ein Sohn der Nachbarn. Bern und auch Tommaso sind Pflegekinder. Cesare, der Vater, ist eine Mischung aus Hippie und katholischem Guru, der an die Wiedergeburt glaubt. Die Kinder wachsen in einer Art selbstgestrickten religiösen Indoktrination auf. Teresa wird davon angezogen, besonders aber von Bern, den sie nahezu hörig liebt und später heiratet. Bern liest viel, wird zum Nihilisten, Narzissten und Tyrann. Tommaso erinnert sich:

„Er begann mit „der große Egoist“ zu unterschreiben. In riesigen Lettern schrieb er mitten auf ein Blatt: „UNSERE AUFGABE IST ES, DEN HIMMEL ZU STÜRMEN!“ Er schrieb: „Wir müssen ihn erklimmen, den Himmel. (…) Im letzten Brief ( …) wiederholte er einen Satz, der das Ergebnis all dieser Studien war. (…)“ Jetzt habe ich es verstanden. Nicht ich irrte mich. Gott ist nur eine banale Erfindung. Nur wer lebt, hat Recht.“
Bern wird ein Mensch mit eigenen willkürlichen Regeln. Die Gruppe fällt auseinander. Alle Anläufe, den Himmel zu stürmen, bringen nur Katastrophen hervor.

Wie ist es geschrieben?
Giordano erzählt aus der Perspektive Teresas, die auf das Geschehen zurückblickt. Sie berichtet und trägt von anderen zusammen, was sie selbst nicht erlebte. So wird aus verschiedenen Quellen das Beziehungsgeflecht der Figuren deutlich, ihre Ambitionen, ihre Schwächen, aber auch ihre gegenseitige Verletzung. Verborgenes tritt zutage. Auf 500 Seiten ergibt sich ein Panorama verletzter Seelen.

Wie gefällt es?
Junge Leute und ihre utopischen Projekte, brüchige Fassaden, Generationenkonflikte, Impulsivität, Kontrollverluste. Das hat einen hohen Reiz, ist spannend. Giordano trägt mit manchen Details zwar dick auf, aber es gelingt ihm, das Geschehen psychologisch zu motivieren. Und er erzählt es mit Leichtigkeit und Überraschung. Das hat mich schnell reingezogen und gefesselt.

Paolo Giordano: „Den Himmel stürmen“, Rowohlt, 22 EUR,  978-3498025335

hr-iNFO Büchercheck vom 17.01.2019 - Lucy Fricke: „Töchter“

Die Schriftstellerin Lucy Fricke ist Jahrgang 1974 und in den letzten Jahren langsam aber sicher von einer spannenden Nachwuchsautorin zu einer der interessantesten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur geworden. Für ihren neuesten Roman „Töchter“ wurde sie gerade mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
„Töchter“ ist ein Roman aus dem beliebten Genre der „Roadnovel“, aber die Reise, auf die Lucy Fricke ihren beiden Heldinnen schickt,  die hat es wirklich in sich. Es beginnt damit, dass Betty und Martha, beide Anfang 40, beide mitten in der Midlife-Crisis sich aufmachen, um Marthas Vater Kurt in einer Schweizer Sterbeklinik abzuliefern. Das klingt düster, ist es aber überhaupt nicht, zumal sich herausstellt, dass der gute alte Kurt seine Suizidabsicht nur vorgetäuscht hat, um in der Schweiz seine Jugendliebe wiederzusehen. Das allerdings hält die beiden Freundinnen nicht davon ab, weiterzufahren Richtung Italien, um dort das Grab von Bettys geliebtem Stiefvater zu besuchen, wobei sich auch die Nachricht von dessen Tod als leicht übertrieben herausstellt – das Grab ist jedenfalls leer.

Wie ist es geschrieben?
Dieser Roman hat das, was eine Roadnovel natürlich haben muss: Er hat Tempo, überraschende Wendungen und auch den ein oder anderen Crash. Darüber hinaus ist er sehr, sehr witzig. Betty und Martha sind zwei sympathische Loserfiguren, die ständig am Rande des Nervenzusammenbruchs balancieren – ohne dabei ihren Sinn für Selbstironie zu verlieren. Das zeigt sich in schnellen, unterhaltsamen Dialogen, die Lucy Fricke einfach wunderbar beherrscht. Dazu kommen dann immer wieder überraschende und pointierte Alltagsbeobachtungen, etwa bei der Frage, was einen guten Liebhaber ausmacht:

„Nie wieder ein Tätowierter“, sagte ich. „Die reden die ganze Zeit. Schlimmer als Angler. Als ich anfing mit Sex, haben mir die Männer ihr Leben anhand von Narben erzählt. Das hat meistens nicht lange gedauert. Jetzt kommen langsam die Bypässe dazu, aber die sind schnell erzählt. Tätowierungen hingegen sind ins Fleisch gebrannte Geschichten.“

Dabei geht es Lucy Fricke nicht nur darum, besonders witzig und originell zu sein. Dieser Roman wie auch die Reise der beiden Freundinnen hat durchaus ein ernsthaftes und potentiell tragisches Ziel, das aber hier nicht verraten soll.

Wie gefällt es?
Mir hat dieser Roman einen Heidenspaß gemacht. Wie Lucy Fricke hier die Tochter-Vater-Beziehung auf eine schräge Bahn bringt, und das gleich in doppelter und dreifacher Hinsicht, das ist schon großes Erzählkino. Das ist rasant, das ist spannend bis zum Schluss. Und was lernen wir daraus? Vielleicht, dass man dem Tod nicht entkommen kann, aber dass es ziemlich unterhaltsam ist, ihm hinterherzufahren – jedenfalls mit Lucy Fricke.

Lucy Fricke: „Töchter“, Rowohlt, 20 EUR, ISBN: 978-3498020071


hr-iNFO Büchercheck vom 10.01.2019 - A.L. Kennedy: „Süßer Ernst“

A. L. ist sie eine der Großen in der zeitgenössischen britischen Literatur. Sie gilt als schonungslos realistisch, sie kann böse und witzig sein, analytisch und sinnlich. Jetzt ist ein neuer Roman von ihr auf Deutsch erschienen.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Der Brexit wird in A.L. Kennedys Roman nirgendwo explizit erwähnt. Und doch durchweht die Geisteshaltung des Establishments in Westminster große Teile des Buchs. Eben die Geisteshaltung, die das Risikospiel mit der öffentlichen Meinung und das manipulative Werben für den Ausstieg aus der EU erst möglich machte. Einer der beiden Protagonisten, Jon, ist ein hoher Beamter, der den Regierenden hilft, aus politischen Entscheidungen nette Geschichten zu machen, damit die Leute die Entscheidungen schlucken. Fakten spielen dabei keine Rolle. Die zweite Protagonistin, Meg, ist eine von denen, die diese Geschichten schlucken sollen. Sie ist als Wirtschaftsprüferin gescheitert, wurde als Opfer von Vergewaltigung und Gewalt Alkoholikerin. Jetzt ist sie seit einem Jahr trocken. Hier treffen sich zwei zutiefst verletzte Menschen. Jon hat sich seinem Job entfremdet, er hat mit seinen Idealen nichts mehr zu tun.

„Das offene Geheimnis, das im Herzen der öffentlichen Dienstleistungen liegt, besteht – wie du weißt – darin, dass es Fakten gibt, aber die sind unwichtig. Es gibt Erkenntnisse, und diese Erkenntnisse können beweisen oder widerlegen, was der bessere, wenn nicht gar der beste – Weg zu allem ist. Zu grundsätzlich allem. (…)Sie müssen Gewissheit haben, sie müssen schrille Meinungen und fassbare Wahrheiten haben, damit sie die Wirklichkeit besser überdecken können.“

Wie ist es geschrieben?
Kennedy kondensiert die Handlung auf einen Tag im Frühling. Den Tag, an dem sich Meg und Jon mit vielen Erwartungen zum Essen verabredet haben. Von 6Uhr42 des einen Tages bis 6Uhr42 des nächsten. Der entscheidende Tag. Die Kapitel wie ein Countdown. Kommen Sie zusammen? Kennedy unterbricht die Handlung mit den Gedankenströmen der beiden. Regelmäßig wechselt die Perspektive zwischen Meg und Jon.

Wie gefällt es?
Die Konstruktion des Buchs ist anstrengend. Ständig unterbrechen die inneren Monologe die Handlung, man muss sich orientieren und auch konzentrieren auf diese tiefgründige Erkundung der beiden Figuren. Darauf muss man sich einlassen und wird dann auch belohnt. Kennedy liefert Bilder des Lebens und Überlebens in einem herunter-gekommenen System. Momente einer Zeitenwende. Und zugleich die Beschwörung der Menschlichkeit, der Überlebensfähigkeit der Bedürfnisse nach Zuwendung, Zärtlichkeit und Glück in der Gemeinsamkeit. Ich finde: beeindruckend.

A.L. Kennedy: „Süßer Ernst“, Hanser Verlag, 28 EUR, ISBN: 978-3-446-26002-3

hr-iNFO Büchercheck vom 03.01.2019 - Peter Swanson: „Alles was du fürchtest“

Im neuen Krimi von Peter Swanson steht eine junge Frau im Mittelpunkt, die seit einem traumatischen Ereignis immer das Schlimmste erwartet. Um ihrem Londoner Leben eine neue Wende zu geben, tauscht sie für ein halbes Jahr ihre Wohnung mit ihrem in Boston lebenden Cousin.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Kate Priddy wundert sich selbst, dass sie es trotz all ihrer Ängste und Panikattacken geschafft hat, nach Boston zu fliegen, um die Wohnung ihres Cousins Corbin zu beziehen. Und ihre unheilvollen Ahnungen treten prompt ein: Schon am Tag ihrer Ankunft findet die Polizei in der Nachbarwohnung eine ermordete Frau. Kate schwankt zwischen Panik und Neugier. Kannte ihr Cousin die Nachbarin Audrey? Wieso bestreitet er das, wenn doch ihr Wohnungsschlüssel in der Küchenschublade liegt? Parallel dazu wird in Rückblenden die Geschichte von zwei Studienfreunden namens Corbin und Henry erzählt. Gemeinsam haben sie eine schreckliche Tat begangen. Klar, dass alles irgendwie zusammenhängt…

„Ich weiß wirklich nichts darüber“, sagte Kate.
Jack presste wiederholt die Lippen aufeinander. „Ich glaube nicht, dass Corbin etwas mit dieser Sache zu tun hat.“
„Na ja, da war er bereits in London…“.
„Wann genau ist er abgeflogen, wissen Sie das?“
„Er muss einen Nachtflug am Donnerstag genommen haben, weil er am frühen Freitag-vormittag angekommen ist.“
Jack sagte nichts, und Kate sah, wie er im Kopf nachrechnete, ob Corbin etwas mit Audreys Tod zu tun gehabt haben konnte.
„Sie glauben also, dass Corbin…“
„Nein, ich glaube gar nichts. Theoretisch könnte er in die Sache verwickelt sein. Es wäre möglich, oder?“ Er sah sie beinahe hoffnungsvoll an.

Wie ist es geschrieben?
Peter Swanson beherrscht das Metier, die Spannung voranzutreiben. Die inneren, meist angstbesetzten Monologe von Kate, kurze Dialoge, die Schwenks von der aktuellen Geschichte in die Studienzeit von Corbin und Henry, dazu ständige Perspektivwechsel – das ist spannend zu lesen.

Wie gefällt es?
„Alles was du fürchtest“ ist ein spannendes Buch um die eigentlich hoch-neurotische Protagonistin Kate, deren Neugier aber größer ist als all ihre Ängste und Phobien. Über-zeugende Charaktere, eine schlüssige Geschichte, in der immer mehr Einzelheiten dazu auftauchen, wie es zum Mord an Audrey gekommen ist, haben mir gut gefallen. Ein spannender Krimi mit dem kleinen Nachteil, dass ich schon recht früh wusste, wer hinter dem Mord steckt.

Peter Swanson: „Alles was du fürchtest“, Blanvalet, 15 EUR, ISBN: 978-3-7341-0543-2

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