Die wöchentlichen Bücherchecks - 2018 - Buchhandlung und Verlag Bornhofen in Gernsheim am Rhein

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hr-iNFO Bücherchecks in 2018:  

hr-iNFO Büchercheck vom 27.12.2018 - Wolf Haas: „Junger Mann“

Der Österreicher Wolf Haas ist mit seinen Kriminalromanen um den kauzigen Kommissar Simon Brenner bekannt geworden, diese skurrilen Geschichten, die regelmäßig mit dem Stoßseufzer „Jetzt ist schon wieder was passiert“ anfangen. Und tatsächlich ist jetzt schon wieder was passiert. Es gibt einen neuen Roman von Wolf Haas. „Junger Mann“ heißt der.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
„Junger Mann“ sind eigentlich zwei Romane. Es ist einmal die Geschichte des Schriftstellers Wolf Haas als – ja – „Junger Mann“, und zwar als ziemlich dicker junger Mann, als der er im Salzburger Land aufgewachsen ist – vollgestopft mit Schokoriegeln und zur relativen Bewegungslosigkeit verurteilt, nachdem er sich mehrmals beim Skifahren das Bein gebrochen hat:

„Von den Zehen bis zur Hüfte eingegipst, humpelte ich voller Autogramme meiner Schulfreunde durchs Leben und machte eine interessante Entdeckung. Wenn es unter dem Gips juckt, kann man sich nicht kratzen. Aber irgendwann hört es von selbst wieder auf.“

Dann aber, genau zur Hälfte des Buches, nimmt dieser Roman Fahrt auf, als der 14-jährige Erzähler zusammen mit dem Fernfahrer Tscho – in dessen Frau er unsterblich verliebt ist – auf eine wilde Reise geht, die sie vom Salzburger Land bis nach Griechenland führt. Und plötzlich wird aus der Jugendgeschichte eine rasante Roadnovel, an deren Ende aus dem dicken Jungen tatsächlich ein junger Mann geworden sein wird.

Wie ist es geschrieben?
Dieser Roman hat all das, was man an dem typischen Wolf-Haas -Stil einfach mögen muss: Lakonische, immer leicht absurde Behauptungen - wie: „Rückwärts durch die Knie betrachtet war die Welt schon immer am interessantesten“ - und Schilderungen von aberwitzig-komischen Alltagssituationen. Das alles macht das Lesen zu einem großen Vergnügen, aber man sollte sich von der witzigen und temporeichen Erzähloberfläche nicht täuschen lassen. Wolf Haas wäre nicht Wolf Haas, wenn es ihm nicht gleichzeitig auch um mehr ginge. In diesem Fall ist es das Thema „Übersetzen“ – in diesem Roman wird ständig und auf allen Ebenen übersetzt: Zwischen Sprachen, zwischen Orten und Ländern und letztendlich auch zwischen Lebensphasen. Das kann man leicht überlesen, aber wenn man einmal darauf gestoßen ist, sieht man es überall und merkt erst, wie wunderbar komplex dieser Roman ist.

Wie gefällt es?
Muss ich das noch sagen? Ich liebe die Bücher von Wolf Haas sowieso, aber „Junger Mann“ ist doch etwas Besonderes: Ein Roman über das Erwachsenwerden und zugleich eine raffinierte Metapher für die Reise vom Jungen zum Mann. Ein scheinbar unschuldiger Coming-Of-Age-Roman, der es faustdick hinter den Ohren hat, und den man zwei, dreimal lesen kann - und eigentlich auch muss.

Wolf Haas: „Junger Mann“, Hofmann & Campe, 22 EUR, ISBN: 9783455003888

hr-iNFO Büchercheck vom 20.12.2018 - Bernard MacLaverty: „Schnee in Amsterdam“

76 Jahre alt ist der irischstämmige Schriftsteller Bernard MacLaverty. Ein Alter, in dem man auf viele Erfahrungen zurück blicken kann. Das wird in seinem neuen Roman deutlich, der jetzt auf Deutsch erschienen ist. MacLaverty beschreibt darin ein Ehepaar, das seit 40 Jahren verheiratet ist.  

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Die Reise nach Amsterdam ist ein Weihnachtsgeschenk von Stella an Gerry. Sie war Lehrerin, er Architekt und Dozent an der Uni. Auf den ersten Blick ist es ein romantischer Trip eines innigen Paares. Sie halten sich auf der Straße an der Hand, küssen sich im Aufzug, schlafen miteinander. Sie machen Besichtigungen, gehen essen, Kaffee trinken, genießen das winterliche Amsterdam. Vertraulichkeiten und Rituale einer langjährigen Beziehung. Aber unter der Hochglanzoberfläche lauern Risse und Abgründe.
Die gemeinsamen Jahre können nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier zwei Individuen unterwegs sind. Jetzt, im Alter, werden die Momente der Distanz und der Heimlichkeiten überdeutlich. Sie will ihr Gelübde einlösen und in Amsterdam in einer klosterähnlichen Frauengemeinschaft leben. Gerry ahnt davon nichts. Er meint: „Alle Religionen sollten Museum sein.“ Sein Leben dreht sich inzwischen um den Whiskey. Ohne kann er nicht, versucht es aber zu verstecken. So, wie der Schnee auf Amsterdam niederrieselt, steuert das Paar stetig auf den klärenden Moment zu. Stella eröffnet das Ringen um Gemeinsamkeit oder Trennung. Am Ende sitzen sie fest am Amsterdamer Flughafen, der Schnee hat den Verkehr lahm gelegt. Gerry ist nach einem Trunkenheitssturz äußerlich gezeichnet und schläft seinen Rausch aus. Stella sitzt weinend auf dem Klo, denn ihre Zukunftshoffnung hat sich als Illusion entpuppt. Am nächsten Morgen reden sie wieder miteinander, konfrontieren sich mit Wahrheiten, suchen ihre Zukunft. Wie fragte sich Stella noch? „Was ist Liebe anderes als ein lebenslanges Gespräch?“

Wie ist es geschrieben?
MacLaverty erzählt chronologisch mit Rückblenden, mal aus Stellas, mal aus Gerrys Perspektive. So ergibt sich in vielen Details sukzessive ein Bild von der engen Vernetzung dieses Paares. Sprachlich ist MacLaverty ein Meister der Einfachheit. Er beschreibt die Seelendramen ohne viel Tamtam, direkt, eher registrierend.  Aber gerade durch diese Ruhe entsteht Nähe zu den Figuren und ein melancholischer Grundton, der den Grundgedanken – Liebe als lebenslanges Gespräch – unterstreicht.

Wie gefällt es?
Ich finde, „Schnee in Amsterdam“ ist ein Buch aus dem Leben. Man kann hier viel lernen. Es gibt starke Botschaften und auch feine Weisheiten, die zwischen den Zeilen auf ihre Entdeckung warten. Ich finde: ein Buch für Neugierige, für Paare, an einem ruhigen Winterabend genau das Richtige.

Bernard MacLaverty: „Schnee in Amsterdam“, C.H. Beck Verlag, 22,00 EUR, ISBN: 978-3406727009

hr-iNFO Büchercheck vom 13.12.2018 - Alexa Hennig von Lange: „Kampfsterne“

Mit ihrem Debütroman „Relax“ wurde Alexa Hennig von Lange 1997 zu einer der bekanntesten Autorinnen der deutschen Popliteratur. Mittlerweile hat sie eine ganze Reihe von Jugendbüchern, Theaterstücke und Romanen geschrieben.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Die Kampfzone dieses tragisch-komischen Gesellschaftsromans ist eine gutbürgerliche westdeutsche Stadtrandsiedlung im Jahr 1985. Im Zentrum stehen zwei vierköpfige Familien, aber eigentlich kämpft hier jeder gegen jeden: Rita, die unendlich ehrgeizige und genauso frustrierte Übermutter, die nicht ertragen kann, dass Nachbars Kinder klüger, begabter und schöner als die eigenen Nachkommen sind, und das vor allem den schlechten Genen ihres Mannes Georg zu Last legt, einem sensiblen Warmduscher vor dem Herrn. Ganz das Gegenteil ist Rainer, ein mittelmäßig erfolgreicher Architekt aber ausgewachsener Macho, der seine weitaus begabtere Frau Ulla zwingt, nur halbtags zu arbeiten und sie obendrein noch vor den Augen der Kinder verprügelt. Diese überspannte Atmosphäre explodiert schließlich in einer Vergewaltigung und einer Kindesentführung, ohne allerdings in der reinen Katastrophe zu enden. Es gibt Hoffnung in diesen Roman, auch wenn sie nicht leicht zu finden ist.

Wie ist es geschrieben?
Alexa Hennig von Lange erzählt diese Geschichte von Neid, Gewalt und Vernachlässigung aus zehn ständig wechselnden Perspektiven. Das verleiht dem Ganzen ein hohes Tempo, und lässt uns den Figuren sehr nahe kommen. Dabei findet Hennig von Lange für jede dieser Figuren eine widererkennbare Stimme – sei es die des 8-jährigen Nesthäkchens, das mit ihren roten Haaren unschwer als alter ego der Autorin zu erkennen ist, sei es die Stimme der rebellische Teenagertochter oder die der gegensätzlichen Vaterfiguren, Georg und Rainer. Am dominantesten aber ist und bleibt die der frustrierten Supermutter Rita:

„Ich bin die Mutter einer Geigerin, der kommenden Anne-Sophie-Mutter, von einem Mädchen, das kleine Serenaden selbst komponiert. Aber leider auch Segelohren hat, die sie von Georg, meinem asthmatischen, linkischen Mann geerbt hat.“

Wie gefällt es?
„Kampfsterne“ ist ebenso böse wie unterhaltsam. Es ist einer dieser Romane, bei dem einem da Lachen im Halse stecken bleibt. Aber er ist auch und vor allem eine Reise in jene westdeutschen 80er-Jahre, die im Rückblick ja so gerne verklärt werden. Interessant ist dabei, dass eine heute 45-jährige Autorin ausgerechnet auf jene Zeit schaut, da ihre Eltern so alt waren, wie sie jetzt. Und daraus ergibt sich die eigentliche Spannung dieses Romans, in dem nämlich ständig die Frage mitschwingt, wie unsere Kinder später einmal über uns und unsere vielleicht genauso verkorksten Beziehungen urteilen werden. Das ist eine beunruhigende Frage eines aufregenden Romans.

Alexa Hennig von Lange, Kampfsterne, Dumont Verlag, 20 EUR, ISBN: 9783832197742

hr-iNFO Büchercheck vom 06.12.2018 - Simone Buchholz: „Mexikoring“

Mexikoring ist ein Bürohochhausghetto im Norden Hamburgs. Hier brennt ein Auto, wie so oft in dieser Stadt. Aber diesmal sitzt noch jemand drin.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Staatsanwältin Chastity Riley wird aus dem Bett geklingelt: ein Auto brennt, darin eingeschlossen ein Mann, er wird von der Feuerwehr herausgeholt und ins Krankenhaus gebracht, aber er überlebt nicht. Die Fahrzeugpapiere nennen einen Namen, der alle elektrisiert: Nouri Saroukhan, Mitglied eines türkischstämmigen Clans, der die Polizei immer wieder beschäftigt. Nouri, das wird schnell ermittelt, war nicht in die kriminellen Strukturen verwickelt, seine Familie hatte ihn deshalb verstoßen. Er hatte in Hamburg studiert, das Studium jedoch vor einiger Zeit hingeschmissen und für gutes Geld bei einem Versicherungskonzern gearbeitet. Parallel wird die Geschichte von Nouris Jugend erzählt, wie er in der Familie aneckt, wie er immer wieder brutal geschlagen wird. Und eines Tages Aliza kennenlernt, ein wildes, eigenwilliges Mädchen, das ebenso wie er aus einer Clan-Familie stammt und sich nicht einfügen will.

Wie ist es geschrieben?
Simone Buchholz schreibt in einem ungewohnten, schnoddrigen Ton, der besonders gut ihre Hauptfigur, die Staatsanwältin Chastity Riley, charakterisiert. Diese ist taff, spröde, trinkt zu viel, kann mit Gefühlen und den dazugehörigen Männern nicht umgehen – lässt sich aber nie ganz unterkriegen.

„`Wer zur Hölle hat Nouri Saroukhan umgebracht? Familie oder Freunde?´
Ich würde jetzt spontan sagen: das Leben, aber das sag ich lieber nicht, Stepanovic hasst es, festzustecken, da sollte man dann keine blöden Scherze machen. Obwohl, so blöd war der gar nicht, und lustig war es eigentlich auch nicht gemeint.
`Ich tippe auf Feinde´, sagt der Faller.
So, der war jetzt echt keinen Deut besser.
Dann trinken wir zusammen und warten darauf, dass die Fragen endlich hinter den Horizont fallen.“

Wie gefällt es?
Der schnoddrige Tonfall hat mich am Anfang irritiert – und dann konnte ich nicht mehr genug davon bekommen. Das ist irgendwie sehr cool, sehr direkt, manchmal auch sehr hart. Es hat mich gefesselt, von der doch mehr oder weniger kaputten Staatsanwältin Chastity Riley zu lesen. Und ihren Ermittlungen, die mitten in die Clan-Strukturen führen. Clans, die die Polizei nicht akzeptieren, die eigene Gesetze haben, die kriminell sind und rauben und morden, auch in ihren eigenen Kreisen. Der Krimi „Mexikoring“ hat mich da reingezogen – und berührt hat mich die Geschichte von Nouri und Aliza, den rebellischen Kindern, die gegen ihre Familien aufbegehren, zusammen fliehen wollen, aber das dann doch nicht schaffen. Aber dahinter steckt wieder ganz was anderes…

Simone Buchholz: Mexikoring, Suhrkamp-Verlag, 14,95 EUR, ISBN: 9783518468944


hr-iNFO Büchercheck vom 29.11.2018 - Natascha Wodin: „Irgendwo in diesem Dunkel“

Die Geschichte ihrer Eltern lag für Natascha Wodin im Dunkeln. Sie wusste nur: Sie stammten aus der Sowjetunion, waren Zwangsarbeiter in Deutschland, blieben nach Kriegsende hier - aus Angst vor dem stalinistischen Terror. Als Natascha zehn Jahre alt war, brachte ihre Mutter sich um. Deren Leben und Herkunft hat Wodin recherchiert und in ihrem preisgekrönten Buch „Sie kam aus Mariupol“ erzählt. Im neuen Buch ist der Vater an der Reihe.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Der Vater schweigt meistens. Deutsch will er nicht lernen. Nach dem Tod seiner Frau schiebt er die Töchter ab in ein Kloster. Er selbst reist als Tenor in einem Kosakenchor durch Europa. Als er die Stimme verliert, holt er die Kinder zurück und wird Industriearbeiter. Wodin schildert ihn als Trinker, der brutal zuschlägt, mit Hunger und Durst bestraft und sich fast an ihr vergeht. Die erwachsene Erzählerin versucht den Vater, seine innere Emigration und sein Schweigen zu ergründen. Sie findet einen Onkel in Moskau, erfährt, dass der Vater vor ihrer Mutter bereits eine Frau und zwei Kinder in Russland hatte. Mehr kann sie nicht herausfinden. So verschiebt sich der Fokus des Erzählten auf Natascha selbst. Auf ihr Leiden an dem Vater, an der Ausgrenzung durch die deutschen Kinder in den 50ern und 60ern, obwohl sie doch so gerne eine Deutsche mit bürgerlicher Existenz werden will.

„Unter lautem Gelächter wollten sie von mir wissen, ob es stimme, dass wir zu Hause die Kartoffeln in der Kloschüssel wuschen und dass die Russenweiber keine Unterhosen trugen. Sie nannten mich `Russki´, `Russla´, `Russensau´, `Russenlusch´. Ich erinnere mich gar nicht, wann ich diese Wörter zum ersten Mal gehört hatte, mir war, als wären sie immer schon da gewesen, ein Bestandteil der Luft, ein Geruch, den ich nie loswurde.“

Es ist die Geschichte einer Katastrophe: Scheitern in der Schule, Orientierungslosigkeit, Rumtreiberei, schließlich sogar Obdachlosigkeit, Vergewaltigung. Dann hat sie Glück und findet einen Job. Die Ausgestoßene zieht sich mit aller Entschlossenheit wieder hinein ins eigene, selbstbestimmte Leben.

Wie ist es geschrieben?
Natascha Wodin erzählt eine harte Geschichte. Und sie erzählt sie in vielen Details, genau, schonungslos, bisweilen krass. Ihr Ton dagegen nimmt Abstand ein zum Erzählten, ist eher nüchtern, ja lakonisch. Es ist kein Buch der spektakulären Bilder. Die braucht es nicht. Die Ereignisse sprechen für sich, der Ton verstärkt sie in ihrer Wirkung.

Wie gefällt es?
Natascha Wodin hat mit den beiden sehr persönlichen Büchern über ihre Eltern auch ein Zeitpanorama der unmittelbaren Nachkriegsjahre in der Bundesrepublik entfaltet und Einblicke geschaffen in Zwangsarbeiterschicksale, die ja nicht so selbstverständlich erinnert werden. Und sie hat dafür eine so sachliche wie wirkungsvolle Sprache gefunden.

Natascha Wodin: „Irgendwo in diesem Dunkel“, Rowohlt Verlag, 20 EUR, ISBN: 9783498074036

hr-iNFO Büchercheck vom 22.11.2018 - Timur Vermes: „Die Hungrigen und die Satten“

Timur Vermesmhat mit seiner Hitler-Satire „Er ist wieder da“ einen der erfolgreichsten Romane der letzten Zeit geschrieben – sechs Jahre später setzt er jetzt nach mit „Die „Hungrigen und die Satten“.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
„Die Hungrigen und die Satten“ beginnt als Satire. Der Privatsender MyTV kommt auf grandiose Idee, seine Starmoderatorin Nadeche Hackenbusch auf Realityshow-Tour in das größte Flüchtlingslager der Welt irgendwo in Afrika zu schicken. Und das Konzept geht auf: „Engel im Elend“, so heißt die Show, wird zum Quotenhit. Aber irgendwann geben sich die afrikanischen Flüchtlinge nicht mehr zufrieden damit, für deutsche Kameras die eigene Ausweglosigkeit in Szene zu setzen; irgendwann kommen sie auf die Idee, sich auf den Weg Richtung Europa zu machen, so dass sich plötzlich 150.000 Menschen im Anmarsch auf die Festung Europa befinden.

Wie ist es geschrieben?
Solange der Roman satirisch sein will, ist er nicht besonders subtil.
Auf einem ganz anderen Register spielt Timur Vermes dann aber, wenn es ihm um die Frage geht, wie die deutsche Politik auf die Flüchtlingskrise reagieren  soll. Dann wird aus der Satire plötzlich eine ernstzunehmende Politthriller; dann wird nämlich selbst dem CSU-Innenmininster schlagartig klar, dass es eigentlich keine Option ist, die Flüchtlinge mit Gewalt von der Grenze fernzuhalten:

„Als 2013 die Leichen durchs Mittelmeer trieben, da haben wir uns bereits der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht. Doch wer gibt das zu? Also haben Leute, die noch nie einen Flüchtling gesehen haben, angefangen, sich zu Opfern umzulügen. Dieser erste Rechtsruck war unsere Reaktion auf Tote, die noch zweitausend Kilometer weg waren. Was glauben Sie, was wir für einen Rechtsruck kriegen, wenn es um den Massenmord vor unserer Haustür geht?“

Wie gefällt es?
Als Satire hat mich der Roman ziemlich enttäuscht – das ist mir alles zu klischeehaft und zu vorhersehbar. Das Gedankenexperiment als solches aber, die Frage, was denn passiert, wenn Flüchtlinge sich in einer konzertierten Aktion Richtung Grenze aufmachen – das ist dann doch wieder packend erzählt. Weil Vermes so unerbittlich durchspielt, vor welchen Entscheidungen die wohlhabenden Gesellschaften demnächst stehen werden. und welche moralischen Kosten damit verbunden sein werden. Da wird aus der Satire dann plötzlich eine  mitreißende Tragödie. Ab ungefähr der Hälfte wird „Die Hungrigen und die Satten“ zu einem wirklich  hellsichtigen Roman über unsere unmittelbare Gegenwart.

Timur Vermes: „Die Hungrigen und die Satten“, Eichborn, 22 EUR, ISBN: 9783847906605

hr-iNFO Büchercheck vom 15.11.2018 - Dörthe Hansen:  „Mittagsstunde“

Nach ihrem Debütroman „Altes Land“ vor zwei Jahren stürmt nun auch „Mittagsstunde“ von Dörte Hansen die Bestsellerlisten. Und wieder schreibt die 54-jährige Nordfriesin über das Leben auf dem Land.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
„Mittagsstunde“ spielt in einem fiktiven Dorf, namens Brinkebüll, und dessen Geschichte wird über mehrere Generationen rekapituliert. Im Zentrum steht ein Archäologe, Ingwer Feddersen, der aus Brinkebüll stammt, der es als Hochschullehrer bis nach Kiel geschafft  hat, und der mit Ende 40 zurückkehrt, um seine Großeltern zu pflegen. Eine Rückkehr mit zwiespältigen Gefühlen, denn mit diesem Dorf, in dem er als unehelicher Sohn einer geistig verwirrten  Mutter aufwuchs, verbindet Feddersen eine Art Hassliebe:
„Er hing an diesem rohen, abgewetzten Land, wie man an einem abgelebten Stofftier hing, dem schon ein Auge fehlte, das am Bauch kein Fell mehr hatte.“

Wie ist es geschrieben?
Dieser Satz mit dem abgelebten Stofftier ist typisch für Dörte Hansens Fähigkeit, die komplexen Gefühle ihrer Hauptfigur auf den Punkt zu bringen. Ingwer Feddersen weiß, wie hart und mitunter auch grausam das Leben auf dem Land sein kann – aber trotzdem kann er sich dem Gefühl, genau dorthin zu gehören, nicht entziehen. Und es kommt noch etwas dazu: denn Ingwer Feddersen ist Archäologe. Er ist Spezialist für untergegangene Kulturen und merkt nach und nach, dass sein Heimatdorf selbst schon eine untergegangene Kultur ist. Es ziehen Städter zu, aber die leben nur noch auf dem Land, aber nicht mehr vom Land – wieder so ein toller Dörthe-Hansen-Satz. Das meiste ist verschwunden oder verschwindet nach und nach – und genau dieses Verschwinden hat Dörthe Hansen auf beeindruckende Weise festgehalten:
„Es war so still im Dorf, kein Hund, kein Hahn, kein Schleifen aus der Tischlerei, kein Hämmern mehr auf Haye Nissens Amboss. Man hörte keine Tiere mehr. Auch nicht die Stimmen, die Tiere riefen, laut genug, um große Felder zu beschallen, wen sollten sie auch rufen, auf den Weiden standen kaum noch Kühe. Ingwer schienen, wenn er durch das Dorf ging, nur noch Dinge einzufallen, die verschwunden waren.“

Wie gefällt es?
„Mittagsstunde“ ist  für mich einer der bewegendsten Romane dieses Jahres. Dörthe Hansen ist das Kunststück gelungen, einen Heimatroman zu schreiben, der „Heimat“ nicht verklärt oder verkitscht, sondern im Bewusstsein seiner unwiederbringlichen Vergangenheit thematisiert. Dörthe Hansen gelingt es eindrucksvoll, uns die widersprüchlichen Gefühle, die mit dieser Verlusterfahrung verbunden sind, noch einmal erleben zu lassen – ein bisschen sentimental, aber dafür nicht weniger wahrhaftig.

Dörthe Hansen:  „Mittagsstunde“, Penguin, 22 EUR, ISBN: 9783328600039

hr-iNFO Büchercheck vom 08.11.2018 - Donatella di Pietrantonio: „Arminuta“

Vor zwei Jahren hat die italienische Autorin Donatella di Pietrantonio mit einem Roman über die Opfer eines Erdbebens in den Abruzzen viel Beachtung gefunden. Jetzt ist ein neuer Roman von ihr auf Deutsch erschienen. Wieder spielt er in den Abruzzen, und wieder geht es um eine Erschütterung. Diesmal nicht der Erde, sondern im Leben eines 13jährigen Mädchens.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Arminuta will wissen, warum ihr Leben sich so abrupt ändern musste. Sie glaubt, ihre Mutter sei krank geworden und habe sie deswegen zurück zu einer anderen Mutter bringen müssen. Alles ist anders in der neuen Familie. Die Verhältnisse sind prekär, die Eltern überfordert und abweisend, die Geschwister chaotisch. Armut, Verwahrlosung, Perspektivlosigkeit prägen diese Familie, auch Gewalt. Ein wenig Halt geben nur der große Bruder und die kleine Schwester, die sie über alles liebt. Aber es bleibt das Gefühl der Mutterlosigkeit, der Orientierungslosigkeit, des Verloren seins.

„Es gab keinen Grund mehr, auf der Welt zu sein. Leise wiederholte ich hundertmal das Wort Mama, bis es keinen Sinn mehr hatte und nur noch Lippengymnastik war. Mit zwei lebenden Müttern wurde ich zum Waisenkind. Die eine hatte mich noch mit ihrer Milch auf der Zunge weggegeben, die andere hatte mich mit dreizehn zurückgebracht. Ich war die Tochter von Trennungen, falschen oder verschwiegenen Verwandten, Entfernungen. Ich wusste nicht mehr, woher ich stammte. Im Grunde genommen weiß ich es bis heute nicht.“

Die Rettung kommt von außen. Eine Lehrerin erkennt die Begabung und Intelligenz des Mädchens und sorgt dafür, dass Arminuta in die Stadt umziehen und dort aufs Gymnasium gehen kann. Dort entschlüsselt sie dann auch, warum ihr all das widerfahren ist und kann ihr Leben in die Hand nehmen.

Wie ist es geschrieben?
Die Autorin lässt Arminuta ihre Geschichte als Erwachsene aus der Rückschau erzählen. Die Handlung verläuft chronologisch, der Ton ist ruhig bis lakonisch, die Sprache einfach und direkt. Darin liegt die Kraft des Romans. Die Beziehungen und Gefühlslagen sind sehr eindrücklich, weil sie sensibel und anschaulich beschrieben werden. Das ist manchmal so direkt, als stünde man beim Lesen in der Szene daneben.

Wie gefällt es?
Donatella di Pietrantonio erzählt eine harte Geschichte aus einer für die meisten vermutlich sehr exotischen Welt. Ein Bergdorf in den Abruzzen in den 70er Jahren, das ist schon ziemlich weit weg. Aber durch ihre Erzählweise und ihre feinsinnige Sprache ist es ihr bei mir gelungen, Nähe herzustellen zu ihrer Protagonistin und deren Schicksal. Einmal drin, wollte ich nicht mehr raus aus dem Buch. Und das Wissen, dass es solche Schicksale tatsächlich gegeben hat, sorgt für nachhaltiges Nachempfinden.

Donatella di Pietrantonio: „Arminuta“, Verlag Antje Kunstmann, 20 EUR, ISBN: 978-3956142536

hr-iNFO Büchercheck vom 01.11.2018 - André Georgi: „Die letzte Terroristin“

„Die letzte Terroristin“ heißt das Buch von André Georgi, und es spielt in der Endphase des deutschen Terrors durch die Rote-Armee-Fraktion Anfang der 90er Jahre. Im Mittelpunkt steht dabei der Chef der Treuhand-Anstalt, der die Privatisierung der ehemals volkseigenen Betriebe der DDR vorantreiben soll.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Das BKA steht mächtig unter Druck: der Vorstandssprecher der Deutschen Bank ist ermordet worden, die RAF hat sich zu der Tat bekannt. Die Ermittlungen verlaufen zäh. Der Schutz für andere Persönlichkeiten, die als gefährdet gelten, wird erhöht. Darunter Treuhandchef Hans-Georg Dahlmann. Für die Linken ein Hassobjekt, versucht er doch ehemalige Staatsbetriebe der DDR nach kapitalistischen Regeln zu privatisieren. Im Osten verhasst, weil er das Vermögen der DDR verscherbelt. Tatsächlich versucht Dahlmann mit aller Energie zu verhindern, dass das Chemiewerk Bitterfeld billigst an mögliche Scheinfirmen verkauft wird. Und da ist Sandra, eine frühere Freundin seiner Tochter, die er nun als Assistentin einstellt. Er ahnt nicht, dass sie im Auftrag der RAF unterwegs ist…

Wie ist es geschrieben?
Kurze Kapitel und wechselnde Perspektiven treiben die Geschichte voran: mal aus Sicht der BKA-Beamten, mal aus Sicht der Terroristen, mal aus Sicht von Dahlmann. Eine knappe, präzise Sprache. Platz finden auch die Gedanken, die inneren Zweifel:
„Sandra kann dem Gespräch nicht folgen, sie ist weit, weit weg von allen. Bei der Pistole in ihrer Manteltasche, bei der Szene eben im Flur, als sie den richtigen Moment verpasst hatte. Sie hatte die Hand schon an der Waffe. Er stand nicht mal drei Meter von ihr entfernt, die optimale Distanz, weit genug weg, um ihr nicht in die Arme zu fallen, nahe genug, um sicher zu treffen, sie hätte nicht mal groß zielen müssen. Doch da war Dahlmanns Blick, diese klaren, blauen Augen, die etwas Durchdringendes haben können, fast hat es so gewirkt, als wüsste er, was geschehen würde. Und dann kam der Junge in den Flur gelaufen.“

Wie gefällt es?
„Die letzte Terroristin“ ist ein spannendes Buch mit zeitgeschichtlichem Hintergrund. Bezüge zu tatsächlichen Morden der RAF . Treuhand-Chef Detlev Rohwedder, sind explizit gewollt, auch wenn die Namen geändert werden mussten. Aber die geschichtliche Dimension ist für mich auch ein Problem: das Buch streut Zweifel an der bisherigen Annahme, die RAF hätte den Treuhand-Chef ermordet, stellt andere Tätergruppen in den Fokus. Doch Beweise kann ein Krimi natürlich nicht liefern, und so habe ich mich beim Lesen oft gefragt: was ist wahr, was könnte wahr sein, was ist vielleicht falsch? Doch trotz allem ist „Die letzte Terroristin“ von André Georgi ein fesselndes Buch über die Endphase des deutschen Terrorismus und über die widerstrebenden wirtschaftlichen und politischen Interessen der frühen Nach-Wende-Jahre.

André Georgi: „Die letzte Terroristin“, Suhrkamp-Verlag, 14,95 EUR, ISBN: 978-3518467800


hr-iNFO Büchercheck vom 25.10.2018 - Christian Torkler:  "Der Platz an der Sonne"

Globale Migration, nur umgekehrt: Nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es in Torklers Romanwelt noch einen Dritten Weltkrieg. Deutschland ist mehrfach zerteilt, Berlin eine ruinöse Stadt und wird von einer kleptokratischen Dikatur regiert. Herrscher über die Welt sind die Afrikaner, Bongos nennt sie der Volksmund. Sie haben das Geld, die Technologie, die Kultur.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Brenner macht alles durch, was Menschen in autoritären und verarmten Ländern so durchmachen. Mangel und Ausbeutung bestimmen das Leben, Bürokratie dient der Machtausübung der Herrschenden und der Selbstbereicherung der Bürokraten.

"Die Hauptstraßen dort sind im Sommer staubig und verdreckt, im Herbst werden daraus Modderpisten mit Müll zu beiden Seiten. Die Nebenstraßen sind so ausgefahren, dass man mit einem normalen Wagen nicht durchkommt. Es gibt keinen Strom und Wasserhähne nur an den Ecken, wenn überhaupt. Der Abfall wird verbrannt oder hinter die Hütte geschmissen. Am Wegesrand schwappt eine üble Brühe vor sich hin und verpestet die Luft."

Aufstände werden brachial niedergeschlagen oder bringen nur das nächste Regime an die Macht. Wer mutig genug ist, versucht abzuhauen. Der legendenumwobene Platz an der Sonne im fernen Afrika ist ein zu starker Magnet, als dass die Mühen und Gefahren der Flucht und der Verlust der Heimat sie zurückhalten könnte. Man kennt das. Nur andersrum. Und so flieht das Stehaufmännchen Brenner nach vielen vergeblichen Anläufen, sein Leben in der Heimat zu verbessern, und erlebt alles das, was Flüchtlinge heutzutage erleben.

Wie ist es geschrieben?
Torkler lässt Brenner seine Geschichte aus dessen Perspektive erzählen. Er sitzt im Abschiebeknast und schreibt in Hefte, die ihm der Pfarrer bringt. Die Perspektive bestimmt die Sprache. Brenner spricht im lakonischen, umgangssprachlichen Ton des kleinen Mannes und mit dessen Vokabular: Jargon und Spruchweisheiten. Manchmal hat das Witz. Auch die gedankliche Struktur des Protagonisten ist eine sehr direkte. Sie folgt und bleibt bei den Ereignissen. Das sorgt für Leichtigkeit, auch beim Lesen.

Wie gefällt es?
Ich finde, diesem Roman fehlt einiges. Zum Beispiel eine Erklärung, warum Afrika so reich geworden ist und die Welt dominieren kann. Und kann man sich die Welt und das eigene Schicksal nur mit Spruchweisheiten erklären? Das Buch bietet keine Alternativen zur Migration und zum Umgang mit Migranten an. Aber: dieser Roman hat eine große Unterhaltungskraft. Und die Umdrehung der Verhältnisse liefert eine Grundlage für Empathie beim Leser: Aus der Perspektive der eigenen Leute das Erleben der Anderen nachzuempfinden. Ich finde, das ist in einer Zeit gesellschaftlicher Spaltung schon viel.

Christian Torkler: "Der Platz an der Sonne", Klett-Cotta Verlag, 25 EUR, ISBN: 9783608962901

hr-iNFO Büchercheck vom 18.10.2018 - Michael Kumpfmüller: „Tage mit Ora"

Michael Kumpfmüller, 1961 in München geboren und inzwischen, wie viele Literaten, in Berlin lebend, hat inzwischen fünf Romane veröffentlich. Fast alle hatten bei der Kritik wie beim Lesepublikum großen Erfolg. Gerade ist ein neuer Roman von Michael Kumpfmüller erschienen, sein Titel: „Tage mit Ora“.

hr-iNFO Büchercheckerin Sylvia Schwab hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
„Tage mit Ora“ – der Titel lässt es schon anklingen – ist eine Liebesgeschichte. Ein Mann und eine Frau, beide Experten in Liebeskatastrophen, fahren miteinander in Urlaub, obwohl sie sich erst fünf Monate kennen und noch kein Liebespaar sind. Die Betonung liegt auf „noch“, denn zwischen diesen beiden sehr ungleichen Menschen entwickelt sich im Lauf der Reise doch eine zarte und sehr unkonventionelle Beziehung. Dass sie im Westen der USA unterwegs sind, von Seattle aus bis nach Arizona, sorgt für einen interessanten Hintergrund, ist aber nur atmosphärisch von Bedeutung.

Wie ist es geschrieben?
Sehr entspannt berichtet der Ich-Erzähler von den unterschiedlichen Ansichten, Bedürfnissen und Gewohnheiten zweier Menschen, die mit 40 und 50 Jahren in der Mitte des Lebens stehen. Ihre gemeinsamen Erlebnisse und Erfahrungen schildert er auf beruhigende Weise distanziert und oft mit einem leise humorvollen Unterton. Hier wird nichts dramatisiert oder in Szene gesetzt, der Text gleitet scheinbar leicht dahin wie das Auto. Nicht glatt, sondern behutsam gesteuert und mit einem ganz eigenen Tempo.

„Ich hatte keine Vorstellung, wie Ora roch, wie sie im Schlaf atmete oder mit ihren Freundinnen sprach, ich kannte ihre Geschichte nicht, wusste nicht, wie sie sich bückte, wie sie schwamm, wie sie sich ärgerte oder die Nase putzte. Kurz: Ich wusste so gut wie überhaupt nichts von ihr und sie noch viel weniger von mir, welche Freunde ich hatte, Essgewohnheiten, die Ticks, meinen Zorn, meine, wie ich es nannte, metaphysische Trauer.“

Wie gefällt es?
Fast 50 Seiten lang wartet man als Leser darauf, dass etwas Besonderes passiert. Dass etwas grandios schief läuft auf dieser Reise oder sich mit euphorischer Begeisterung aufbaut. Doch je weiter man liest, desto deutlicher wird, dass Michael Kumpfmüller genau das nicht schreiben wollte: Eine normale Liebesgeschichte. Seine „Tage mit Ora“ sind von kunstvoller Einfachheit und zarter Komik. Als Leser sind wir ganz nah dran und doch ein Stück weg, keine Voyeure, sondern staunende Zuschauer. Ein subtiler und in seiner Fragilität sehr moderner Roman!

Michael Kumpfmüller: „Tage mit Ora“, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 19 EUR, ISBN: 9783462051049

hr-iNFO Büchercheck vom 11.10.2018 - Nino Haratischwili: "Die Katze und der General"

Die Romanhandlung umfasst knapp 25 Jahre,  beginnt kurz vor dem ersten Tschetschenienkrieg und endet 2016.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Nura, eine Jugendliche, lebt in einem Dorf in der gebirgigen tschetschenischen Provinz. Sie träumt davon, der Enge ihrer Heimat zu entkommen, von Freiheit, von Selbstbestimmung. Im Krieg wird Nura von russischen Soldaten gefoltert, vergewaltigt, ermordet. Zwei Offiziere taten es aus Langeweile, zwei Soldaten machten mit, weil sie zu schwach waren, es zu verhindern und um ihr eigenes Leben zu retten. Ein Fünfter bringt sich um, weil er nicht mitmachen will. Einer der vier Täter, ein eigentlich emphatischer, kulturinteressierter Typ, verwandelt sich durch die Tat. Erst will er seine Schuld sühnen und zeigt sich selbst an. Doch die Justiz hat kein Interesse an der Strafverfolgung der Soldaten. Aus der Erfahrung dieser Rechtslosigkeit macht er die maximale Grenzüberschreitung zum Lebensprinzip. Das Opfer wird Täter. Die anderen nennen ihn General. Er zieht nach Berlin, kann sich alles und alle kaufen, nur nicht die Liebe und das Leben seiner Tochter. Die bringt sich um, als sie die Abgründe ihres Vaters entdeckt.

"Diese grausige Nacht, als der Anruf kam, der ihm den Boden unter den Füßen weggerissen und ihn in den tiefsten Abgrund seines Lebens hinabgestürzt hatte, rückte alles in eine bestimmte, aber dennoch folgerichtige Ordnung. Sie bestimmte den weiteren Verlauf seines Lebens. Ihr Tod machte ihm vieles schmerzlich klar. Er sah auf einmal den Zusammenhang, begriff, was zu tun war, es gab kein Zaudern mehr. Er würde die Rechnung begleichen, damit sie in Frieden ruhen könnte."

Er engagiert Sisili, genannt Katze, eine aus Georgien stammende Schauspielerin, die dem ermordeten Mädchen täuschend ähnlich sieht. Mit ihr erweckt er Nura wieder zum Leben und zwingt seine Mittäter, in ein einsam gelegenes Hotel in Tschetschenien zu kommen. Dort kommt es zu einer Art Showdown, mit dem er sich von seiner Schuld erlösen will.

Wie ist es geschrieben?
Nino Haratischwili erzählt ihre Geschichte von Schuld und Sühne wie in einem Thriller. Die Erzählung folgt einem klaren Spannungsverlauf. Sie hat bis zum Finale immer wieder Höhepunkte. Die Hauptpersonen sind scharf geschnitten, bisweilen erscheinen sie überzeichnet oder rollenhaft. Dann wirkt der Roman wie eine Inszenierung.

Wie gefällt es?
Das Buch hat mich zwiespältig zurück gelassen. Ich fand es spannend zu lesen, war beeindruckt von vielen Einfällen und auch Recherchen zu den Hintergründen der Handlung. Man kann hier einiges lernen. Aber die Figuren haben mich nicht durchgängig überzeugt. Einige blieben blass, andere widersprüchlich in der Motivation ihres Handelns. Ich hätte gerne noch mehr erfahren über das Leben im Russland nach Gorbatschow oder als Migrant in Deutschland.

Nino Haratischwili: "Die Katze und der General", Frankfurter Verlagsanstalt, 30 EUR, ISBN: 9783627002541

hr-iNFO Büchercheck vom 04.10.2018 - Dennis Lehane: "Der Abgrund in dir"

Mit „Shutter Island“ wurde der US-amerikanische Autor Dennis Lehane berühmt. Jetzt gibt es einen neuen Roman von ihm: "Der Abgrund in dir" ist Psychothriller, Liebesgeschichte und Verwirrspiel zugleich.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
"An einem Dienstag im Mai, im Alter von sechsunddreißig Jahren, erschoss Rachel ihren Mann." Das ist der erste Satz des Buches. Und erst mehr als 300 Seiten später kommt das Buch auf diese Szene zurück. Bis dahin wird das Leben von Rachel Childs geschildert: ihre unglückliche Jugend, die Suche nach dem verschwundenen Vater, ihre Karriere als Journalistin, das berufliche Scheitern wegen einer Panikattacke während einer live-Schaltung ins Fernsehen, das private Scheitern ihrer ersten Ehe. Dann die zunächst äußerst glückliche Ehe mit ihrem zweiten Mann Brian, dem Mann, der ihr wieder Zuversicht gibt und sie langsam aus ihren Panikattacken herausführt. Bis sie erste Anzeichen dafür entdeckt, dass Brian nicht der Mann ist, für den er sich ausgibt. Sie recherchiert, sie folgt ihm, sie fühlt sich betrogen und benutzt, sie konfrontiert ihn mit seinen Lügen, wird von ihm bedroht und schießt. Obwohl sie ihn liebt und auch fest davon überzeugt ist, dass er sie liebt. Und jetzt geht der Thriller eigentlich erst richtig los…

Wie ist es geschrieben?
Dennis Lehane hat zwei herausragende Fähigkeiten: Charaktere bis in ihre Tiefen zu beschreiben und spannungsgeladene Action zu schaffen. Lange Strecken der Erzählung wechseln mit temporeichen Dialogen – und das alles macht den Thriller „Der Abgrund in dir“ zu einer äußerst fesselnden, aber auch unterhaltsamen Lektüre. Selbst der ausführliche Rückblick auf das Leben der Rachel Childs ist nie langweilig – aber richtig spannend wird es erst, als Rachel anfängt, ihrem Mann Brian zu misstrauen.
"Sie sah ihm wieder in die Augen. Irgendwas passiert immer, wenn man jemandem in die Augen sieht: Man gibt Macht ab, man nimmt sie oder teilt sie. Sie kamen zu dem wechselseitigen Entschluss, ihre Macht zu teilen. Sie legte ihre Hand sanft an seinen Kopf. "Ich glaube dir." "So hast du dich aber nicht benommen." "Und ich wünschte, ich könnte dir den Grund dafür nennen. Liegt vermutlich bloß an dem verdammten Regen." "Es regnet nicht mehr." Sie nickte zustimmend. "Ich weiß, dass du nach London geflogen bist." "Sag es noch einmal." Sie stupste mit  ihrem nackten Fuß sanft die Innenseite seines Oberschenkels. "Ich weiß, dass du nach London geflogen bist." "Vertrauen wir einander jetzt wieder?" "Wir vertrauen einander jetzt wieder."

Wie gefällt es?
"Der Abgrund in dir" von Dennis Lehane ist ein Thriller der Täuschungen. Brian ist nicht der, der er zu sein scheint. Er gibt sich aus als ein anderer.
Aber: Spielen wir nicht alle irgendwelche Rollen - natürlich ohne kriminellen Hintergrund wie in diesem Fall? Mich hat das Buch gefesselt, auch ich wurde getäuscht, es gibt so viele irre Wendungen in dem Buch, so viele Überraschungen, so vieles ist anders, als zunächst gedacht. Dennis Lehane ist ein Meister der psychologischen Spannung.

Dennis Lehane: "Der Abgrund in dir", Diogenes-Verlag, 25 EUR, ISBN: 9783257070392

hr-iNFO Büchercheck vom 27.09.2018 -  Juli Zeh: "Neujahr"

Juli Zeh gehört zu den erfolgreichsten und produktivsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Jetzt ist ihr neuer Roman „Neujahr“ erschienen.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Neujahrsmorgen 2018: Henning, ein mittelmäßig erfolgreicher Verlagsmitarbeiter strampelt auf seinem viel zu schweren Fahrrad den steilen Anstieg auf der Vulkaninsel Lanzarote hinauf. Es ist ein verbissener Kampf mit der Topografie und der Schwerkraft, aber auch mit den Erinnerungen an den verkorksten Silvesterabend und dem Gefühl der permanenten Überforderung als Vater und Ehepartner. Und dann sind da noch die Dämonen der Vergangenheit, die ihn diesen Steilhang hinaufzuziehen scheinen – denn als er völlig entkräftet ein Gehöft auf einem Plateau erreicht, holt ihn plötzlich die Erinnerung ein – die Erinnerung, schon einmal hier gewesen zu sein, mit seinen Eltern und seiner Schwester; die Erinnerung an ein traumatisches Erlebnis, das ihm hier zugestoßen ist und das Gefühl, dass in diesem Haus der Schlüssel für seine wiederkehrenden Panikattacken zu finden sein könnte.

Wie ist es geschrieben?
Juli Zeh ist keine Freundin des literarischen Schnickschnacks – sie schreibt direkt, sie schreibt auf Wirkung, und mit einer Sprache, die ohne Umwege dorthin geht, wo es wehtut: Wenn sie uns mit Henning den Berg auf Lanzarote hinauftreibt, dann spüren wir unmittelbar das Pulsieren der Muskeln und das Ziehen hinter den Schläfen, aber auch die Wut auf den Berg, in die sich Hennings Wut über die Familie, die Frau, die Kinder und über sich selbst mischt. Da stimmt jeder Satz, da ist kein Wort zu viel, da wird mit gnadenloser Präzision das Psychogramm eines Getriebenen gezeichnet – um dann, wenn Henning sich an das Trauma seiner Kindheit erinnert, den Ton radikal zu wechseln und sich in die bedrohliche Vorstellungswelt eines von seinen Eltern verlassenen Jungen zu versetzen. Das klingt dann so:
"Henning denkt, dass Mama und Papa weg sind, weil er auf die Ritzen zwischen den Fliesen getreten ist. Auf der Terrasse hat er manchmal "nicht auf die Ritzen treten" gespielt und dabei zu sich selbst gesagt: "Wenn ich es nicht schaffe, auf die andere Seite zu kommen, ohne auf eine Ritze zu treten, wird etwas Schreckliches passieren." Das war nur Spaß. Ein Spiel. Dachte er. ... Er würde gerne weinen, aber seine Tränen haben auch Angst und bleiben lieber in den Augen."
Das ist ebenso anrührend wie unheimlich und lässt uns als Leser genauso mitleiden wie im Fall des atem- und kraftraubenden Berganstiegs.

Wie gefällt es?
"Neujahr" ist ein packendes Leseerlebnis - ein Roman, der bei aller scheinbaren Gradlinigkeit dunkle Abgründe enthüllt - und das im wahrsten Sinne des Wortes. Was als Urlaubsdrama einer stressgeplagten und überforderten Mittelstandsfamilie beginnt, bekommt plötzlich einen Dreh ins Unheimliche – und das ist ebenso überraschend wie überzeugend. Und apropos Überraschung: „Neujahr“ ist wahrscheinlich der erste Roman, in dem Martin Schulz und Würselen Erwähnung finden. Aber das ist wahrlich nicht der einzige und beileibe nicht der wichtigste Grund, warum dieser Roman zu empfehlen ist.

Juli Zeh: "Neujahr", Luchterhand, 20 EUR, ISBN: 9783630875729

hr-iNFO Büchercheck vom 20.09.2018 - Jennifer Egan: „Manhattan Beach“

New York, Brooklyn, in den 30er und 40er Jahren. Hafen, Werften, Strände. Clubs, Arbeitslose, Gangster. Und dann nach Kriegseintritt der USA: Marinewerften, Kriegsschiffe, Frauenarbeit. Und immer: viel Wasser. Mittendrin ist Anna, erst als Mädchen mit Mutter, Vater und behinderter Schwester. Dann junge Frau und ohne Vater, denn der ist auf mysteriöse Weise verschwunden.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Man kann dieses Buch als Emanzipationsroman lesen. Anna setzt in einer Marinewerkstatt Bauteile für Kriegsschiffe zusammen. Immer dieselben. Aber sie träumt davon, Taucherin zu werden. Schiffe unter Wasser zu reparieren, zu schweißen. Nur, Frauen will man in diesem Job nicht. Bis der Männerwelt die geeigneten Männer ausgehen. Da darf dann auch Anna in den schweren Anzug mit Kuppel steigen und wird gegen alle Widerstände ein Vorbild. Man kann das Buch zumindest teilweise auch als schwarzen Krimi lesen. Wie bei der Tauchergeschichte gibt es auch hier viel zu lernen. Wie Geschäfte gemacht wurden in der Zeit der Prohibition, wie Bars funktionierten, wie Gangster dachten und agierten und auch in der feinen Gesellschaft ihre Rolle hatten, sogar, welche weichen Seiten sie hinter ihrer rauen Schale verbargen. Man kann das Buch aber auch als Kriegsroman, Familienroman oder noch viel mehr: als Vater-Tochter Roman lesen. Denn der abrupte Verlust des Vaters, der sich mit Gangstern eingelassen hatte, verfolgt Anna dauerhaft.

„Nach jahrelanger Abwesenheit kehrte Annas Vater zurück. Sie hatte ihn nicht vor Augen, erinnerte sich aber an den leisen Schmerz, den sie verspürt hatte, wenn er sie hochgehoben hatte, um sie zu tragen. Sie hatte das gedämpfte Klimpern des Kleingelds in seinen Hosentaschen im Ohr. Seine Hand glich einer Steckdose, mit der sie ihre Hand verband, egal, wohin es ging, manchmal unbewusst. Anna blieb stehen, durch die Eindringlichkeit dieser Bilder wie vor den Kopf gestoßen. Sie hob ihre Finger gedankenlos vor ihr Gesicht und erwartete halb, den warmen, bitteren Geruch seines Tabaks in der Nase zu haben.“

Wie ist es geschrieben?
Man kennt Egan als experimentierfreudige Schriftstellerin. In „Manhattan Beach“ ist sie es nicht. Jetzt erzählt Sie konventionell, von Rückblenden und Perspektivwechseln abgesehen. Kapitel für Kapitel entsteht das historische Panorama einer Stadt zwischen den Wassern und den Menschen in ihr, deren Alltagsproblemen und Träumen.

Wie gefällt es?
Literaturwissenschaftler werden vielleicht enttäuscht sein von Jennifer Egans neuem Buch. Leser müssen es nicht. Es ist eine spannende Geschichte von der ersten bis zur letzten Seite, mit interessanten und differenziert angelegten Protagonisten, in einem zeithistorisch aufwändig recherchierten detaillierten Setting, atmosphärisch dicht gewoben, gut geschrieben, sogar lehrreich und eben auch überraschend. Das macht Spaß.

Jennifer Egan: „Manhattan Beach“, S. Fischer Verlag, 22 EUR, ISBN: 978-3103973587

hr-iNFO Büchercheck vom 13.09.2018 - Leila Slimani: "Hand aufs Herz"

Schwitzende Körper. Leidenschaft und Hingabe. - All das findet hier nicht statt.
Die marokkanische Gesellschaft spricht nicht über Sex. Ist aber angeblich der fünftgrößte Konsument von Pornos.

hr-iNFO Büchercheckerin Tanja Küchle hat den Comic gelesen.

Worum geht es?
Leila Slimani versammelt in „Hand aufs Herz“ erschütternd ehrliche Erfahrungsberichte.
Emotional und nah bei ihren Protagonistinnen enthüllt Slimani die Strukturen einer Gesellschaft, in der das Ansehen bei den Anderen über allem steht. Es ist ein scheinheiliges System aus bigotter Prüderie, das mit dem Konzept der „Scham“ nicht nur Frauen, sondern auch Männer von klein auf indoktriniert und zu Gefangenen ihrer eigenen, vermeintlich „schlechten“, körperlichen und seelischen Bedürfnisse macht. Selbst Nähe, Zärtlichkeit – Fehlanzeige! Sex vor der Ehe ist in Marokko per Gesetz verboten.
Aber es gibt auch sie: starke Frauen, die sich der Mehrheitsgesellschaft entgegen stellen.
Nour zum Beispiel, die sich gegen's Heiraten entschieden hat und den schiefen Blicken stand hält. Und die sich ihre Freiheit nimmt – die uns so selbstverständlich erscheint.

N: „Eines Abends in einer Disko, passierte etwas völlig Außergewöhnliches.
Ich sagte zu meinen Freundinnen: 'Heute werde ich ein Typ sein! - Ohne Witz, ich muss es machen!' Ich sah einen Jungen der mir gefiel. - Ich hatte Lust auf ihn und er auf mich. Ich erinnere mich sehr gern daran zurück.“
S: „Sehen Sie ihre Freundinnen von damals noch?“
N: „Oh ja, oft! Gerade vor zwei Wochen habe ich Mailka besucht.“
S: „Hat sie geheiratet?“
N: „Nein, sie ist auch alleinstehend. Wir sind der Club der Singles.“

Wie ist es geschrieben?
Leila Slimani will das Schweigen der bigotten marokkanischen „Schweigegesellschaft“ brechen. In ihrem Comic prangert sie nicht nur die Verhältnisse an, sondern gibt auch – differenziert und behutsam - wieder, was die Frauen in diesem System tatsächlich fühlen, und welche cleveren, individuellen Lösungsstrategien sie teilweise entwickelt haben, um sich ihre Freiheit und Achtung zu erkämpfen. Die Zeichnerin Laetitia Coryn hat dem Ganzen eine Form gegeben, die der Intimität des Inhalts absolut gerecht wird.

Wie gefällt es?
Vieles in „Hand aufs Herz“ hat die Klischees, die ich von den Zuständen und Geschlechterverhältnissen der marokkanischen Gesellschaft im Kopf hatte, bestätigt – oder erschreckender Weise sogar noch getoppt.
Andererseits hat auch Vieles mich überrascht, mir imponiert, mein Mitgefühl herausgefordert. - Und ich habe besser verstanden, warum diese Gesellschaft so tickt, wie sie es tut. - Wie hier so leicht nach dem Arabischen Frühling wieder eine Re-Islamisierung Einzug halten kann.
Dieser Comic ist ein starkes Plädoyer für mehr Emanzipation – sexuelle, emotionale und gesellschaftliche Emanzipation – und damit vielleicht auch irgendwann politische.
Ein Buch, dass ich jedem „ans Herz legen“ möchte, der verstehen will, wie elementar wichtig persönliche Freiheit und das Recht auf Intimität sind.

Leila Slimani: „Hand aufs Herz“, im Avant Verlag, 25 EUR, ISBN: 9783945034958

hr-iNFO Büchercheck vom 06.09.2018 - Anna Tell: "Vier Tage in Kabul“

"Vier Tage in Kabul“ von Anna Tell kommt aus dem Krimi-Klassiker-Land schlechthin, nämlich Schweden. Allerdings spielt er - wie der Titel andeutet - hauptsächlich in Afghanistan und ist auch kein typisch-schwedischer Psycho-Thriller, sondern ein Polit-Krimi.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Die schwedische Kriminalkommissarin Amanda Lund ist in Afghanistan stationiert, um lokale Sicherheitskräfte auszubilden. Gerade konnte sie einen schweren Angriff der Taliban abwehren, als sie nach Kabul gerufen wird: ein schwedisches Diplomaten-Paar ist verschwunden, womöglich entführt. Ihre Erfahrungen als versierte Verhandlungsspezialistin werden gebraucht. Doch ihre Ermittlungen gestalten sich schwierig: der schwedische Botschafter will ihr nicht wirklich helfen. Ihrem Kollegen, der in Schweden ihren Einsatz koordiniert, werden von Seiten der Regierung ständig Steine in den Weg gelegt. Alles muss geheim bleiben, niemand darf vom Verschwinden des Diplomaten-Paars wissen. Da erfährt Amanda Lund, dass der Botschafter erpresst wird. Und in Stockholm wird die Leiche eines Mannes gefunden, der als ehemaliger Mitarbeiter der Kabuler Botschaft identifiziert wird. Wie gehört das alles zusammen? Drogengeschäfte scheinen eine Rolle zu spielen...

Wie ist es geschrieben?
Eine klare Sprache, treffende Dialoge, kurze, knappe Kapitel, die gekonnt die Spannung auf den Höhepunkt treiben: Anna Tell beherrscht die Regeln für einen erfolgreichen Krimi. Es sind nicht literarische Qualitäten, die hier überzeugen, sondern vielmehr die Sachkenntnis über das Land Afghanistan und das perfekte timing: von verschiedenen Schauplätzen und aus Sicht verschiedener Personen werden hier vier Tage in Kabul beschrieben, in denen eigentlich alle an einem Strang ziehen sollten, um die zwei Vermissten zu finden. Doch einige haben andere Motive...

""Sie haben im Auto hinten rechts auf der Rückbank gesessen - dort wo Sie immer sitzen. Und genau auf Ihrer Seite hat jemand unter dem Wagen eine Bombe angebracht. Vermutlich um sicherzugehen, dass...“ Sie verstummte. "...ich...ums Leben kommen würde?“, beendete Sven den Satz für sie und starrte Amanda an. Sie nickte langsam.
"Gibt es irgendetwas, das Sie vergessen haben zu erzählen und das diesen Attentatsversuch erklären könnte?“ Wie ein alter Mann sackte Sven auf seinem Stuhl in sich zusammen. Sein Atem ging flach, und er sah Amanda hilflos an. Irgendetwas in seinem Blick hatte sich verändert.
Sven hatte Angst. Panische Angst.“

Wie gefällt es?
"Vier Tage in Kabul“ hat mich Seite für Seite mehr in Bann gezogen: da ist zum einen das fremde Terrain in Afghanistan, die Ebene der Diplomaten und Vermittler - und dagegen die ganz banalen Ermittlungen und menschlichen Verwicklungen. Ein richtig guter Krimi in ungewohnter Kulisse mit viel Einfühlungsvermögen für die handelnden Personen. Echt mal was anderes aus Schweden. Wirklich überzeugend.

Anna Tell: "Vier Tage in Kabul“, Verlag rowohlt polaris, 14,99 EUR, ISBN: 9783499273841

hr-iNFO Büchercheck vom 30.08.2018 - Claire Gondor: "Ein Kleid aus Tinte und Papier"

Weiches Herbstlicht, rotes Laub, ein Kanal, ein leer stehendes Haus, eine junge Frau und ein Hochzeitsfotograf, der Bilder von ihr macht. So beginnt der Roman. Die Frau trägt Pumps, ein Kleid, an der Taille eng, blütenförmig bis zu den Knien ausgestellt. Sie ist sorgfältig geschminkt. Eine Idylle, möchte man meinen. Und doch hat die Szene einen doppelten Boden. Wo ist der Bräutigam?

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Claire Gondor erzählt die Geschichte einer großen Liebe und Leidenschaft. Leïla heißt die Frau, ihr Geliebter Dan. Als Kind ist sie mit ihrer Familie aus Afghanistan nach Frankreich gekommen. Von ihrer Mutter stammen ihre Fertigkeiten an der Nähmaschine. Die braucht sie, denn sie näht sich ihr Hochzeitskleid aus den Briefen Dans. 56 sind es. Er schreibt von seiner Liebe, seiner Leidenschaft, seinen Erlebnissen. Denn Dan ist offensichtlich in einem Auslandseinsatz im Sudan. Mit jedem Brief wächst Leïlas Kleid und unser Verständnis der Geschichte. Denn mit jedem Brief erinnert Leïla Episoden ihrer Liebe zu Dan. Und jeder Brief erhält eine besondere Stelle im Kleid und damit am Körper. Aber mit jedem Brief wächst auch die Ahnung: da muss etwas passiert sein. Das Kleid ist eben auch eine Skulptur der Trauer.

„Sie nahm das Papier zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie konnte nicht widerstehen, die Worte immer wieder zu lesen, wieder und wieder, unendlich oft. Worte der Erinnerung an ihre so unbeschwerte Vergangenheit, an ihre glücklichen Umarmungen: ihm noch ein bisschen nahe sein, um das Verlorene fortbestehen zu lassen. So wie man sich hin und her wiegt, um einen beißenden Schmerz zu beruhigen und wieder Kraft zu schöpfen. Wärme tanken, um die Nacht besser durchzustehen.“

Aber warum ging diese Liebe zu Ende? Der letzte Brief, den Leïla in die Hand nimmt, ist nicht von Dan, sondern von einer Behörde und hat ein DIN-A4-Format. Sie näht ihn nicht ins Kleid sondern wirft ihn in den Kanal. Da ist klar, was passiert ist.

Wie ist es geschrieben?
Jedes Kapitel kreist um einen anderen Brief, bietet eine neue Geschichte in der Geschichte. Die Erinnerungen an den Geliebten und die Geschichten ihrer Familie fließen ineinander. Die gemeinsame Achse, das Verbindende ist die Empfindsamkeit Leïlas. Gondor lässt sie in wirkungsstarken Bildern aufblühen. Ein poetischer Grundton durchwirkt das Buch so wie die Fäden der Erinnerung das Kleid. Und gleichzeitig folgt das Buch einer fesselnden Spannungsdramaturgie. Von Kapitel zu Kapitel steuert die Geschichte auf eine Aufklärung zu. Und selbst für den Paukenschlag zum Finale findet Gondor noch ein poetisches Bild. Dramatisch und schön zugleich.

Wie gefällt es?
Ich finde, "Ein Kleid aus Tinte und Papier" ist ein sehr schönes Buch. Eine ergreifende Geschichte großartig erzählt. Sie bewegt, und sie ist spannend. Und das auf hundert Seiten in einem schönen Einband, der diesem gelungenen Stück Poesie einen angemessenen Ort bietet. Ein Vergnügen.

Claire Gondor:  "Ein Kleid aus Tinte und Papier", Wagenbach Verlag, 16 EUR, ISBN: 978-3803113306

hr-iNFO Büchercheck vom 23.08.2018 - Henning Mankell:  "Der Sprengmeister"

Im Oktober 2015 ist Henning Mankell, der Schöpfer der Wallander-Krimi-Serie, im Alter von 67 Jahren gestorben. Jetzt, drei Jahre nach seinem Tod, erscheint der Roman, mit dem Mankell 1973 debütierte, erstmals in deutscher Übersetzung. Er heißt „Der Sprengmeister“.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
„Der Sprengmeister“ heißt Oskar Johansson. Er ist 23 Jahre alt, als er mit seiner Truppe einen Eisenbahntunnel durch einen Felsen sprengen soll. Als Johansson eine der Dynamitladungen kontrollieren will, explodiert sie. Er verliert ein Auge, die rechte Hand und vier Finger der linken - aber er überlebt. Er bleibt Sprenger, arbeitet, bis er in Rente geht, und führt bis zu seinem Tod im Jahr 1969 ein relativ ereignisarmes Leben: Er macht kein Aufhebens um seine Behinderung. Als seine Freundin ihn verlässt, heiratet er ihre Schwester. Politische Ereignisse nimmt er wahr, fühlt sich aber weitgehend unbeteiligt und verbringt die letzten Jahre in einer verlassenen Militärsauna auf einer Schäreninsel - eine Lebensgeschichte also, die mit einem Knall beginnt und danach eher leise dahin plätschert.

Wie ist es geschrieben?
Erzählt wird diese Lebensgeschichte von einem Autor, der Oskar Johansson kennenlernt, als der 68 Jahre alt ist, und der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Johanssons Leben als Geschichte eines Zeugen großer Umwälzungen zu erzählen – als Lebensgeschichte eines Arbeiters, der zum Opfer der Industrialisierung wurde und der die sozialen und geschichtlichen Veränderungen der letzten 50 Jahre hautnah miterlebt hat. Immer wieder besucht er Johansson in seinem Saunahäuschen , um ihn zu befragen, aber der gibt nur widerwillig Auskunft, kann sich kaum erinnern und meint, mit all den geschichtlichen Prozessen kaum etwas zu tun gehabt zu haben:

„Er erklärt, er sei wie die anderen gewesen, mehr nicht. Ein Sprengmeister mit Familie. Er hat nicht das Gefühl, er hätte an den Veränderungen teilgenommen. Sie sind geschehen, und haben sein Leben beeinflusst. Aber er hat sie nicht selbst mitgestaltet. Der Arbeiter ist ein Bürger des Staates, aber es sind andere Kräfte, die diesen vorantreiben oder verändern. Das ist der Kern von Oskars Rede über seine Unscheinbarkeit. – An diesem Punkt sind wir uns nicht einig.“

Die Spannung des Romans entsteht aus genau dieser Uneinigkeit, und aus der offenen Frage, wie man das Leben eines Mannes erzählt, dessen größte Leistung darin besteht, dieses Leben mit Würde und ohne viel Aufhebens gemeistert zu haben.

Wie gefällt es?
Wer die Spannung und Dramatik der Wallander-Krimis erwartet, wird von diesem Roman enttäuscht sein. Er ist eben kein Krimi, es ist der erste Roman eines jungen Autors, der sich fragt, wie das Leben der Schwachen und sozial Benachteiligten zum Gegenstand von Literatur werden kann. Es ist ein leiser und unaufdringlicher Roman, und wer den genauen und empathischen Blick Mankells auf seine Figuren schätzt, der wird auch hier auf seine Kosten kommen.

Henning Mankell: „Der Sprengmeister“, Paul Zsolnay Verlag, 21 EUR, ISBN: 9783552059016

hr-iNFO Büchercheck vom 16.08.2018 - Bodo Kirchhoff:„Dämmer und Aufruhr“

Ja, nach unseren juristischen Normen wurde Bodo Kirchhoff von seinem Musiklehrer im Internat am Bodensee missbraucht. Kirchhoff selbst benutzt dieses Wort aber nicht. Er klagt auch nicht an. Die juristische Dimension bleibt außen vor. Er erzählt die sexuellen Handlungen in Bildern und er erzählt sie als Teil einer falsch verstandenen emotionalen Beziehung, aber auch als sexuelle Entdeckung.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Wir sind in den 50er Jahren. Die Eltern sind kriegs- und entbehrungsgeschädigt, sowohl seelisch als auch materiell, sie müssen feststellen, dass sie nicht zueinander passen. Sie wollen ihr eigenes Leben leben. Der Sohn wird nach der Grundschule aufs Internat geschoben. Seine jüngere Schwester bleibt zunächst bei der Oma. Der Vater zieht nach Stuttgart, die Mutter nach Frankfurt. Zu den Feiertagen und in den Ferien spielen sie den Kindern noch eine Weile heile Familie vor. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die einzig konstante fürsorgliche Beziehung von der Oma geleistet wird. Dafür darf der Sohn im Urlaub mit der Mutter den Kavalier geben, es kommt zu neugierigen sexuellen Handlungen. Das Körperliche, die Erotik wird ihn immer wieder umtreiben, im Leben und im Werk. Als Pennäler streift er durch das Frankfurter Bahnhofsviertel, geht in die Puffs genauso wie in die Buchhandlungen. Die Kunst bietet sich als Rettung im emotionalen Chaos an: erst die Malerei und dann das Schreiben, die Bilder und die Wörter. Zeitweise wurde Kirchhoff als Pornoschriftsteller verunglimpft. Die Mutter litt darunter, auch noch, als der Sohn die Hochbetagte im Pflegeheim besucht:

„Sie nahm meine Hand und fand noch einmal zu ihrer Stimme. Immer nur Dinge aus der Kanalisation des Lebens, mein Gott, und was wurde schon alles Herrliches über die Liebe geschrieben! Sie drückte die Hand und führte die Beispiele an, die sie bei dem Thema unausweichlich anführte, (…), während ich fast nach ihr geschlagen hätte, nur um sie so zu erreichen, dass sie nicht weghören könnte, wenn ich ihr sagte, was das Schreiben sei: wieder und wieder ein Versuch, aus der eigenen Scheiße Gold zu machen.“

Wie ist es geschrieben?
Kirchhoff bezeichnet sein Buch als Roman. Er mischt Fakten mit Hinzugeschriebenem. Konsequent ist daher mal von „ich“, mal von „er“ die Rede. Und das auf drei Zeitebenen: Er rekonstruiert -zum Teil angestoßen von Fotos - die vergangene Zeit, dann berichtet er über die Besuche bei der Mutter im Pflegeheim und die daraus folgenden Erinnerungsimpulse. Die dritte Erzählzeit ist die Zeit des Schreibens in einem Hotelzimmer in Alassio, in dem einst die Eltern ihre letzten glücklichen Tage zusammen waren. Sozusagen eine Vergewisserung der eigenen Lebenserfahrung am historischen Ort.

Wie gefällt es?
„Dämmer und Aufruhr“ ist weit mehr als die Geschichte wie einer zum Schriftsteller wird. Und es ist auch mehr als ein Dokument des Ringens um eine Sprache. Zum einen für die Darstellung der ambivalenten, eigentlich missbräuchlichen Sexualerfahrung, zum anderen seiner körper- und geistbetonten Ichbezogenheit. Ich finde dieses Buch so interessant, weil es über die Ichgeschichte hinaus einen lebenserfahrenen Blick auf die Nachkriegsgesellschaft wirft.

Bodo Kirchhoff: „Dämmer und Aufruhr“, Frankfurter Verlagsanstalt,  28 EUR, ISBN:  978-3627002534

hr-iNFO Büchercheck vom 09.08.2018 - Maike Wetzel: „Elly“

„Elly” heißt der Debütroman der 1974 in Groß-Gerau geborenen Schriftstellerin und Drehbuchautorin Maike Wetzel. Das Projekt brachte ihr im Vorfeld der Veröffentlichung schon den renommierten Robert Gernhardt Preis ein.

hr-iNFO Büchercheckerin Sylvie Schwab hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Elly ist ein kleines Mädchen, 11 Jahre alt. Sie hat eine ältere Schwester, Ines, ihre Eltern sind Freiberufler. Es ist eine ganz normal funktionierende deutsche Durchschnittsfamilie. Bis Elly eines Tages vom Judo-Training nicht mehr zurückkehrt.
Das Mädchen bleibt verschwunden und ist doch allgegenwärtig in den Gedanken, Handlungen und Erinnerungen der Eltern und der Schwester. Das Schlimmste ist die Unsicherheit, das permanente Schwanken zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Und damit verbunden sind furchtbare Schuldgefühle und Phantasien über das, was passiert sein könnte: Mord, Vergewaltigung, Entführung, professioneller Missbrauch. Sogar die Eltern selbst werden verdächtigt, ihr Kind getötet zu haben – an all dem zerbricht diese Familie fast.

Wie ist es geschrieben?
Multiperspektivisch. Hochsensibel! Und sehr spannend!! Einmal heißt es, „diese Geschichte ist auch ein Theaterstück“. Ines schreibt das, Ellys Schwester. Sie meint damit wohl, dass sich dieses Drama auf engstem Raum abspielt. In der Familie, zu Hause, in den Köpfen der Beteiligten. Wobei – im Gegensatz zum normalen Theaterstück – sehr wenig geredet wird. Der Schmerz und vor allem die Ungewissheit paralysieren die Menschen und lassen sie verstummen. Nur Ines weiß sich zu helfen: sie schreibt Ellys Geschichte auf.

„Diese Geschichte ist nicht meine Geschichte. Ich bin nicht sicher, wem sie gehört. Sie liegt auf der Straße, sie schläft in unserem Haus und trotzdem ist sie mir immer einen Schritt voraus. Wenn ich diese Geschichte nun aufschreibe, ist das ein Versuch, sie zu bannen.“

Wie gefällt es?
Sehr gut! Für mich hat der Roman nur einen Schönheitsfehler: am Schluss wird mir zu viel erklärt – und dann eben doch zu wenig. Ich hätte ein komplett offenes Ende besser gefunden, beunruhigender. Aber wie uns in diesem Roman begreifbar gemacht wird, wie die Säure der Angst und des Misstrauens in ein stabiles Familiengebäude hinein sickert und alle Sicherheiten zersetzt – das ist subtil, psychologisch überzeugend und sprachlich brillant gemacht!

Maike Wetzel: „Elly“, Schöffling & Co, 20 EUR, ISBN: 978-3-89561-286-2

hr-iNFO Büchercheck vom 02.08.2018

Joyce Carol Oates: „Pik-Bube“
Die US-amerikanische Autorin Joyce Carol Oates ist in diesem Jahr 80 geworden. Immer wieder war sie als Kandidatin für den Literatur-Nobelpreis im Gespräch. Jetzt hat sie einen Kriminalroman über einen Krimi-Autor geschrieben.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Andrew Rush ist ein erfolgreicher Schriftsteller von gehobenen Kriminalromanen. Er verdient damit gutes Geld, ist glücklich mit seiner Frau Irina verheiratet und hat drei Kinder. Nur manchmal, da wurmt es ihn, dass er den Glanz seines Idols Stephen King nie erreicht hat. Und dann bezeichnet man ihn auch noch als „Stephen King für Bildungsbürger“! Als Ausgleich schreibt er unter dem Pseudonym Pik-Bube auch ganz andere Krimis: simpel, gewalttätig, kurz: Horrorgeschichten. Niemand weiß von Pik-Bube, und diese Seite seines Lebens soll auch niemand kennenlernen. Er schämt sich geradezu dafür, braucht diese zweite Identität aber auch. Alles ist soweit im Gleichgewicht, bis eine erfolglose Schriftstellerin ihn wegen Diebstahls und Plagiats verklagt. Die Klage wird zwar abgewiesen, die Frau in die Psychiatrie eingewiesen, aber der bis dahin so selbstsichere Schriftsteller gerät nach und nach aus dem Gleichgewicht. Die böse Stimme von Pik-Bube nimmt überhand, flüstert ihm ein, seine Frau hätte einen Liebhaber, seine Kinder würden ihn nicht respektieren. Rasend vor Wut lässt sich Andrew Rush zu einem Mord hinreißen.

„In dieser Nacht und einen großen Teil des nächsten Tages ging Irina mir aus dem Weg. In meinem Arbeitszimmer über dem ehemaligen Stall war ich nicht fähig zu arbeiten. Krank an Herz und Magen. Allein der Gedanke an Pik-Bube erschreckte mich.
„Ich muss aufhören. Kein Pik-Bube mehr.“
Ich wartete bang. Wie jemand, der Herzstechen spürt und auf den nächsten Stich wartet, auf die Infarktkatastrophe. Wartete auf die höhnische, drohende Stimme.“

Wie ist es geschrieben?
An der literarischen Qualität von Joyce Carol Oates besteht kein Zweifel. Bestechend, wie sie Satz um Satz, Seite um Seite aus einem selbstbewussten Mann einen haltlosen, unsicheren und brutalen Menschen werden lässt. Diese Verwandlung passiert nur im Kopf des Schriftstellers, in seinen Gedanken, in seinen  inneren Zwiegesprächen mit seinem zweiten Ich als Pik-Bube. So wird anschaulich und nacherlebbar, wie die dunklen Gedanken immer größere Macht über Andrew Rush ausüben.

Wie gefällt es?
Mich hat es fasziniert, die unheimliche Wandlung dieses selbstgefälligen und erfolgsverwöhnten Schriftstellers zu verfolgen, der - höchst eitel - unfähig ist, seine Grenzen und Minderwertigkeits-komplexe zu erkennen. Bis dann das Böse die Macht übernimmt. Die Wandlung passiert in Mini-Schritten, so dass ich zunächst kaum glauben wollte, zu welchen Taten sich dieser Mann hinreißen lässt. Oder, anders gesagt: wer ist eigentlich der wahre Andrew Rush? Ist Pik-Bube vielleicht sein echtes Ich? Ein kurzer, leichter Thriller, eine spannende Lektüre…

Joyce Carol Oates: „Pik-Bube“, Droemer , 19,99 EUR, ISBN: 978-3-426-28187-1

hr-iNFO Büchercheck vom 26.07.2018 - Robert Seethaler: „Das Feld“

Mit seinem Roman „Ein ganzes Leben“ hat der Schriftsteller Robert Seethaler vor drei Jahren einen Riesenerfolg gehabt. Jetzt liegt sein neuer Roman „Das Feld“ vor. Wieder geht es um Rückblicke aufs Leben, aber auch um den Tod. Seethaler erhält für das Buch im September den Rheingau Literaturpreis.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Das Feld ist der Friedhof von Paulstadt, einer Kleinstadt. Dort gibt es eine Birke und unter ihr eine marode Bank. Auf der sitzt nahezu täglich ein alter Mann und sinniert über das Leben und den Tod und über die Menschen in Paulstadt. Die meisten, die er kennt, sind verstorben. Er meint, er kann sie reden hören auf dem Friedhof. Und so reden sie dann, 29 an der Zahl, in jedem Kapitel jeweils eine andere Person. Jeder erzählt eine Besonderheit seines Lebens, aus der sich die Figur erschließt. Der Autohändler, der Bauer, der muslimische Gemüsehändler, die gescheiterte Schuhhändlerin. Die Mutter mit Blutvergiftung, die alte Frau im Pflegeheim, der junge Mann, der im Auto einer Freundin nach einem Unfall stirbt. Der halbseidene Bürgermeister, der durchgedrehte Pfarrer, der Herausgeber des Lokalblättchens. Aus allen Geschichten entsteht ein Beziehungsgeflecht der Bewohner in einem Zeitraum von knapp 100 Jahren. Es entsteht aber auch eine Topografie des Ortes, der Straßen, Plätze, Geschäfte. Und eine Art Historie von Paulstadt. Die Toten sind abgeklärt. Sie sind am Kern ihrer Existenz angekommen. Die meisten haben keinen Gott mehr. Allenfalls zehren sie von Erinnerungen. Gelassenheit prägt ihre Lebensbilanz. Geblieben ist das Thema Würde, etwa bei der 105-jährigen Annelie Lorbeer. Sie erinnert einen weisen Satz, mit dem sie ihre Totenexistenz verortet:

„Ohne Würde ist der Mensch ein Nichts. Solange es geht, sollte man sich selbst darum bemühen. Sobald es jedoch aufs Ende hin geht, kann einem die Würde nur mehr geschenkt werden. Sie liegt im Blick der anderen. (…) Es ist ein Satz, wenn schon nicht für die Ewigkeit, so doch für den Augenblick. Mehr kann man eigentlich nicht verlangen. Erst war ich Mensch, jetzt bin ich Welt.“

Wie ist es geschrieben?
Pro Kapitel eine Person. Der Roman ist überschaubar. Und doch ist er auch kompliziert. Der Gesamtzusammenhang ergibt sich durch die Vielstimmigkeit erst im Lauf der Lesezeit. Man muss die Details behalten und zuordnen. Das ist ein wenig anstrengend. Die Geschichten sind zwar individuell, die Haltung und die Sprache der Figuren aber sehr ähnlich. Ihre Abgeklärtheit drückt sich in einer lakonischen, ja kargen Sprache aus. Es geht ja auch um das Wesentliche, das, was vom Leben übrig bleibt. Diesen Ausdruck bringt Seethaler zur Meisterschaft.

Wie gefällt es?
Seethaler versammelt in diesem Buch bewegende Schicksale, er macht die Menschen greifbar. Sie berichten von zum Teil dramatischen Dingen, aber Seethaler nimmt ihnen durch seine Sprache den Schrecken. Er findet einen poetischen Grundton, der den Pragmatismus und die abgeklärte Weisheit der Figuren nach ihrem Tod trägt. Das beruhigt, tröstet vielleicht. Auch wenn jede dieser Geschichten beim Lesen die Frage aufwirft: Wann trifft es dich?

Robert Seethaler: „Das Feld“, Hanser Berlin, 22 EUR, ISBN: 978-3-446-26038-2

hr-iNFO Büchercheck vom 19.07.2018 - Gert Loschütz: „Ein schönes Paar“

Der Schriftsteller Gert Loschütz hat eine bewegte Familiengeschichte. 1946 im sachsen-anhalthinischen Genthin geboren, übersiedelte er 1957 mit seiner Familie ins hessische Dillenburg . Diese Geschichte um die Flucht aus der DDR und das Ankommen im Westen hat Loschütz immer wieder literarisch verarbeitet – so auch in seinem neusten Roman: „Ein schönes Paar“.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Es ist ein Roman über eine Liebe im Schatten der deutsch-deutschen Teilung. Die Hauptfigur ist ein Fotograf namens Philip. Als dessen Eltern kurz nacheinander sterben und er ihre Hinterlassenschaften ordnet, stellt er fest, dass die beiden– obwohl seit Jahrzehnten getrennt - auf merkwürdige und intensive Weise miteinander verbunden geblieben waren.

„Es war ein Totentanz, denke ich noch jetzt, Jahre danach. Dieses Festhalten, Loslassen, Heranziehen, Abstoßen war wie ein Totentanz. Sie lebten noch, sie waren zusammen, sie hielten sich am Arm, aber zwischen ihnen ging ein Dritter, der Abschied. Er war es, der sich bei ihnen eingehakt hatte.“

Philip rekonstruiert die Geschichte seiner Eltern vom Kennenlernen 1939, über das prekäre Leben in der DDR, bis zur  Flucht in den Westen und zum Zerbrechen der Ehe unter dramatischen Umständen. So ergibt sich nach und nach das Bild zweier Menschen, die zusammengehörten, aber nicht zusammen sein durften, das Bild einer Liebe, die – wie es im Roman heißt – durch die Liebe selbst zerstört wurde.

Wie ist es geschrieben?
Der Ton dieses Romans ist  nicht laut oder dramatisch, sondern eher intensiv und spannungsgeladen. Loschütz hat ein präzises Gespür für die enttäuschten Hoffnungen und gescheiterten Ansprüche seiner Figuren. Da ist die Mutter, deren Kleiderschrank vollgestopft ist mit selbstgeschneiderten,  aber nie getragenen Kleidern; oder da sind die Werbestrategen der DDR, die ihre realsozialistischen Fernsehgeräte großspurig „Rembrandt“ und „Rubens“ nennen.
Das besondere dieses Romans ergibt sich aber dadurch, dass seine Hauptfigur ein Fotograf ist – einer, der Welt in Bildern wahrnimmt, und zwar immer wieder in Bildern, die urplötzlich ins Abgründige kippen – wie zum Beispiel in dieser Badesee-Szene: „Das Wasser selbst war so schwarz, dass man nicht hindurchzuschauen vermochte, so dass jemand, der bis zum Bauch darinstand, wie ein Torso aussah, wie ein Halbierter.“ Mit solchen Bildern gelingt es Loschütz immer, die merkwürdige Spannung sinnfällig werden zu lassen, die die Eltern des Erzählers miteinander verbindet und gleichzeitig voneinander trennt.

Wie gefällt es?
Gert Loschütz zeichnet mit diesem Roman ein eindringliches Portrait deutsch-deutscher Zerrissenheit. Man kann diese Geschichte als Allegorie der deutschen Teilung lesen. Man kann sie aber auch als Hommage des Autors an die außergewöhnliche Liebe seiner Eltern begreifen – einer Liebe, die man so noch nicht erzählt bekommen hat, und die von daher ein ganz anderes, ein ganz neues, ein außergewöhnliches Licht auf die jüngere deutsche Geschichte wirft. 4 Sterne!

Gert Loschütz: „Ein schönes Paar“, Schöffling Verlag, 22 EUR, ISBN: 978-3-89561-156-8

hr-iNFO Büchercheck vom 12.07.2018 - Ralf Rothmann: „Der Gott jenes Sommers“

Luisa ist 12. Sie lebt mit Mutter und einer ihrer Schwestern auf einem Landgut nahe Kiel. Ab und zu kommt auch der Vater vorbei. Er betreibt das Offizierskasino einer Marinekaserne in Kiel. Die Stadt selbst ist nahezu unbewohnbar, von britischen Bombern zerstört. Das Landgut gehört Luisas Schwager, einer SS-Größe. Aufgrund dieser Verwandtschaft geht es Luisas Familie deutlich besser als zum Beispiel den Flüchtlingen aus dem Osten, von denen Tag für Tag mehr kommen. Es sind die letzten Kriegswochen. Ralf Rothmann schildert sie aus Luisas Perspektive.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Es herrscht Endzeitstimmung. Der Vater trinkt, die Mutter ist in sich versunken, die Schwester ist erotisch umtriebig und verflucht die Nazis, die andere Schwester ist Teil des Regimes. Luisa dagegen vergräbt sich in Bücher. Sie liest, was sie kriegen kann. Ein empathisches, etwas frühpubertäres Mädchen, das scharf beobachtet. Sie fragt sich, woher das Menschenhaar kommt, das die Perückenmacherin im Dorf verarbeitet. Sie stromert im Gelände rum und macht auch vor dem Zaun des Zwangsarbeiterlagers nicht halt. Und sie horcht, wenn die Flüchtlingsfrauen von ihren Erlebnissen berichten.

“Wenn wir den Krieg verloren haben und die asiatischen Horden kommen“, sagte sie beiläufig, „erschießen sie übrigens die Kapitalisten. Das hat mir eine Flüchtlingsfrau aus Schlesien erzählt, die hatte noch Blut am Schuh. Und wir werden brutal vergewaltigt - Mama, Gudrun, Billie, alle. Zerkratzt euch schon mal den Mund, dann denken die, ihr habt Syphilis, und lassen euch vielleicht in Frieden.“
Tag für Tag reichert sich Luisas Leben mit Erfahrenem und Erlebtem an: Hass und Mordlust der untergehenden Nazischergen, die Not der Flüchtlinge, die Depression und Angst der Zivilbevölkerung. Und sie erleidet tiefe persönliche Einschläge. Sie wird zum Missbrauchsopfer ihres Schwagers. Sie erkrankt an Typhus und überlebt gerade so. Ihr Vater erhängt sich oder wird vielleicht auch erhängt. Am Ende will Luisa ins Kloster. Einer Nonne sagt sie: “Ich habe alles erlebt“.

Wie ist es geschrieben?
Rothmann erzählt chronologisch aus dem Erleben Luisas. In einer zweiten Erzählebene lässt er eine fiktive Chronik des 30jährigen Krieges einfließen. So macht er das Leiden, das Grauen, die Unmenschlichkeit des Krieges als immer wieder kehrenden Faktor des Lebens deutlich. Er schreibt nicht analytisch, sondern eher reportagehaft. Er folgt den Beobachtungen seiner Heldin, und erzeugt dabei starke Bilder. Aber: diese Zwölfjährige ist mit viel Wissen oder zumindest Gespür für historische Wahrheiten ausgestattet. Das ist dann eher die Perspektive des Autors als die des jungen Mädchens.

Wie gefällt es?
Ja, die Figur des Mädchens und die Spiegelung des Themas Krieg in der barocken Chronik sind konstruiert. Auch erfährt man nichts Neues über diese Zeit, wenn man sich vorher schon mal damit befasst hat. Und doch ein unterhaltendes, auch anregendes und durch seine Bildsprache nachhaltiges Buch.

Ralf Rothmann: „Der Gott jenes Sommers“, Suhrkamp Verlag, 22 EUR, ISBN: 978-3518427934

hr-iNFO Büchercheck vom 05.07.2018 - Katja Bohnet: "Kerkerkind"

"Kerkerkind" von Katja Bohnet spielt im Berlin zur Zeit einer Hitzewelle. Im Wannseeforst ist die Leiche einer schwangeren Frau gefunden worden. Einer Türkin, die mit einem Deutschen verheiratet war. Und das ist erst der Anfang einer grausamen Mordserie.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Sevim Winter heißt die tote Frau, die schwer verletzt, aber noch lebend, mit ihrem ungeborenen Kind verbrannt wurde. Martin Winter, der Ehemann, wird verdächtigt, weil er kein Alibi hat und dazu noch Kontakte zu einer rechtsnationalen Gruppierung namens Vaterland. Doch Hauptkommissar Viktor Saizew, gerade erst nach einer Hirntumoroperation genesen, und seine hochschwangere Kollegin Rosa Lopez vom Landeskriminalamt, können ihm nichts nachweisen. Nur Stunden nach seinem Verhör ist auch Martin Winter tot - der Kopf abgeschlagen und öffentlich ausgestellt auf den Briefkästen vor seiner Wohnung.

Wie ist es geschrieben?
Auch wenn es sich so anhören mag, "Kerkerkind" von Katja Bohnet ist kein blutrünstiger Serienkiller-Krimi. Im Gegenteil, Bohnet zeigt viel Einfühlungsvermögen für ihr Personal, schildert intensiv Familienkonstellationen und -schicksale. Eine klare Sprache und präzise Dialoge treiben die Handlung voran, die am Ende eine fast unendliche Geschichte von Missbrauch und Rache ist. Und selbst die privaten Hintergründe der beiden Kommissare, bei vielen Krimis oft kitschig oder unangemessen in der Sprache, fügen sich hier stimmig ein.

"Was wissen wir nicht?", fragte er.
Lopez setzte sich, als wöge seine Frage schwer. "Eines wird mir jetzt klar."
Viktor sah sie fragend an.
"Einen Kopf abzuhacken, das ist aufwendig."
"Nicht, wenn du ein Fleischer bist", erwiderte Viktor ernst.
"Jetzt mal davon abgesehen", tat Lopez seinen Einwand ab, "das hat etwas von einem Ritual. Signalwirkung. Als wolle der Mörder damit etwas aussagen."
"Auf mich wirkt es psychisch gestört."
Lopez nickte. "Genau. Aber jemanden zu verbrennen, das ist berechnender."
"Verstehe ich nicht", erwiderte Viktor nachdrücklich.
"Jemanden zu köpfen" - Lopez schwieg, überlegte für einen Moment -, "das ist persönlich und direkt", fuhr sie fort. "Beide Tötungen wirken wie ein Signal, aber ein Streichholz zu werfen ist ein distanzierter Akt."

Wie gefällt es?
Katja Bohnet ist für mich eine neue deutsche Krimi-Stimme, die mich von der ersten Seite an begeistert hat. Bohnet schafft es, ihre Charaktere genau zu zeichnen, manchmal nur mit ein paar Sätzen. Beeindruckt hat mich der Wechsel zwischen den temporeichen, actiongeladenen Szenen und den oft sehr intensiven Betrachtungen der Ermittler. "Kerkerkind" von der im hessischen Hadamar lebenden Autorin Katja Bohnet ist ein Erlebnis, ein Ritt durch eine spannende, vielschichtige Geschichte. Unbedingt lesen - und ich warte schon auf den dritten Krimi mit diesem ungewöhnlichen Ermittler-Duo.

Katja Bohnet: "Kerkerkind", Knaur-Verlag, 14,99 EUR, ISBN: 978-3426520932

hr-iNFO Büchercheck vom 28.06.2018 - Jakob Hein: „Die Orient-Mission des Leutnant Stern“

Jakob Hein ist der zweite Sohn des Schriftstellers Christoph Hein, aber schon lange ein Autor eigenen Ranges. 14 Bücher hat der 1971 in Leipzig geborene Jakob Hein mittlerweile veröffentlicht. Sein jüngster Roman heißt „Die Orient-Mission des Leutnant Stern“.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Jakob Hein erzählt in diesem Roman eine tolldreiste Episode aus dem Ersten Weltkrieg, die sich so tatsächlich zugetragen hat. Edgar Stern war ein in Frankfurt geborener deutsch-jüdischer Leutnant, der im November 1914 eine Gruppe von 14 muslimischen Kriegsgefangenen, getarnt als Zirkustruppe, quer durch Feindesland von Berlin nach Istanbul bringen sollte. Das hört sich verrückt an, geht aber auf einen Plan der deutschen Heeresführung zurück: Man hatte die Idee, Muslime der Welt unter Führung des türkischen Sultans zum Heiligen Krieg, also zum Dschihad, aufzustacheln, um so die Kolonialmächte Frankreich und England im Kampf gegen Deutschland zu schwächen. Ein Plan, der allerdings einige Schwachstellen hatte – und so heißt es im Roman:

„Der Sultan konnte oder wollte das deutsche Anliegen anfangs nicht verstehen. Die Aufgabe des Freiherrn bestand also darin, dem Sultan die Vorstellung eines Dschihad so zu suggerieren, dass der Sultan die Idee am Ende für die seine hielt.“
Um den türkischen Sultan doch noch von der Teilnahme am heiligen Krieg zu überzeugen, sollten die Kriegsgefangenen nach Istanbul gebracht und dort freigelassen werden. Das ist „Die Orientmission des Leutnant Stern“.

Wie ist es geschrieben?
Der Roman liest sich wie eine Satire, wobei Jakob Hein dem historischen Material wahrscheinlich gar nicht viel hinzufügen musste, so absurd war das ganze Unternehmen. Aber man merkt, wie viel Spaß es dem Autor gemacht hat, diese irrsinnige Geschichte zu erzählen:

„In den kommenden Wochen hatte Stern das zweifelhafte Vergnügen, den Plan, entstanden in seinem Kopf und ausgearbeitet mit einer Handvoll Pionieren bei vielen Gläsern Wein, in die knochentrockene Realität des preußischen Militärwesens übersetzen zu müssen, was sich anfühlte, als versuche man, einer Lokomotive den Walzer beizubringen.“
Jakob Hein erzählt mit hörbarer Lust an der Pointe und nimmt sich doch gleichzeitig als Autor sehr zurück. Er präsentiert diese Geschichte nicht nur aus dem Blickwinkel Sterns, sondern auch aus Sicht der anderen Beteiligten, und dieses und Mit- und Gegeneinander von kulturell ganz unterschiedlichen Perspektiven lässt das Ganze nochmal witziger werden.

Wie gefällt es?
Es ist eine tolle Geschichte, unterhaltsam und witzig erzählt, ohne dass der Sinn für die Abgründigkeit des Geschehens verloren gegangen wäre. Wenn Edgar Stern etwa in Istanbul die in Brand gesteckten Kirchen der Armenier sieht, dann wird klar, dass diese aberwitzige Orientmission vor dem Hintergrund schlimmster Tragödien geschieht. Darüber hinaus erzählt Jakob Hein aber auch eine Geschichte, die zeigt: Vor einhundert Jahren fühlte sich Deutschland durchaus dem Islam verbunden. Und das ist doch eine welthistorische Pointe, die zu denken gibt.

Jakob Hein: „Die Orient-Mission des Leutnant Stern“, Galiani, 18 EUR, ISBN: 9783869711720

hr-iNFO Büchercheck vom 28.06.2018 - Jakob Hein: „Die Orient-Mission des Leutnant Stern“

Jakob Hein ist der zweite Sohn des Schriftstellers Christoph Hein, aber schon lange ein Autor eigenen Ranges. 14 Bücher hat der 1971 in Leipzig geborene Jakob Hein mittlerweile veröffentlicht. Sein jüngster Roman heißt „Die Orient-Mission des Leutnant Stern“.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Jakob Hein erzählt in diesem Roman eine tolldreiste Episode aus dem Ersten Weltkrieg, die sich so tatsächlich zugetragen hat. Edgar Stern war ein in Frankfurt geborener deutsch-jüdischer Leutnant, der im November 1914 eine Gruppe von 14 muslimischen Kriegsgefangenen, getarnt als Zirkustruppe, quer durch Feindesland von Berlin nach Istanbul bringen sollte. Das hört sich verrückt an, geht aber auf einen Plan der deutschen Heeresführung zurück: Man hatte die Idee, Muslime der Welt unter Führung des türkischen Sultans zum Heiligen Krieg, also zum Dschihad, aufzustacheln, um so die Kolonialmächte Frankreich und England im Kampf gegen Deutschland zu schwächen. Ein Plan, der allerdings einige Schwachstellen hatte – und so heißt es im Roman:

„Der Sultan konnte oder wollte das deutsche Anliegen anfangs nicht verstehen. Die Aufgabe des Freiherrn bestand also darin, dem Sultan die Vorstellung eines Dschihad so zu suggerieren, dass der Sultan die Idee am Ende für die seine hielt.“
Um den türkischen Sultan doch noch von der Teilnahme am heiligen Krieg zu überzeugen, sollten die Kriegsgefangenen nach Istanbul gebracht und dort freigelassen werden. Das ist „Die Orientmission des Leutnant Stern“.

Wie ist es geschrieben?
Der Roman liest sich wie eine Satire, wobei Jakob Hein dem historischen Material wahrscheinlich gar nicht viel hinzufügen musste, so absurd war das ganze Unternehmen. Aber man merkt, wie viel Spaß es dem Autor gemacht hat, diese irrsinnige Geschichte zu erzählen:

„In den kommenden Wochen hatte Stern das zweifelhafte Vergnügen, den Plan, entstanden in seinem Kopf und ausgearbeitet mit einer Handvoll Pionieren bei vielen Gläsern Wein, in die knochentrockene Realität des preußischen Militärwesens übersetzen zu müssen, was sich anfühlte, als versuche man, einer Lokomotive den Walzer beizubringen.“
Jakob Hein erzählt mit hörbarer Lust an der Pointe und nimmt sich doch gleichzeitig als Autor sehr zurück. Er präsentiert diese Geschichte nicht nur aus dem Blickwinkel Sterns, sondern auch aus Sicht der anderen Beteiligten, und dieses und Mit- und Gegeneinander von kulturell ganz unterschiedlichen Perspektiven lässt das Ganze nochmal witziger werden.

Wie gefällt es?
Es ist eine tolle Geschichte, unterhaltsam und witzig erzählt, ohne dass der Sinn für die Abgründigkeit des Geschehens verloren gegangen wäre. Wenn Edgar Stern etwa in Istanbul die in Brand gesteckten Kirchen der Armenier sieht, dann wird klar, dass diese aberwitzige Orientmission vor dem Hintergrund schlimmster Tragödien geschieht. Darüber hinaus erzählt Jakob Hein aber auch eine Geschichte, die zeigt: Vor einhundert Jahren fühlte sich Deutschland durchaus dem Islam verbunden. Und das ist doch eine welthistorische Pointe, die zu denken gibt.

Jakob Hein: „Die Orient-Mission des Leutnant Stern“, Galiani, 18 EUR, ISBN: 9783869711720

hr-iNFO Büchercheck vom 21.06.2018

Ian McGuire: „Nordwasser“
Nordwasser – das ist der zweite Roman des englischen Schriftstellers Ian McGuire – und der Roman, mit dem er 2016 für den Britischen Booker Prize nominiert war. Ian McGuire ist Jahrgang 1964 lebt in Manchester, lehrt kreatives Schreiben an der Universität von Manchester.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Dieser Roman beginnt in der nordostenglischen Hafenstadt Hull, Mitte des 19. Jahrhunderts: an Bord des Walfangschiffes „Volunteer“ treffen zwei Menschen aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der eine – der Harpunier Henry Drax – ist ein Mann wie eine Naturgewalt und gleichzeitig das personifizierte Böse. Der andere - der Schiffsarzt Patrick Sumner – schleppt eine traumatische Vergangenheit mit sich herum, versucht aber, auf den Schiff die Standards von Recht und Menschlichkeit aufrecht zu halten – und wird dadurch zum erbitterten Gegenspieler des rücksichtslosen Drax. Die Auseinandersetzung der beiden nimmt dramatische Ausmaße an, als eines Tages an Bord ein Schiffsjunge erst missbraucht und dann ermordet wird. Schiffsarzt  Sumner kann Drax der Tat überführen  – was ihm aber erst einmal wenig bringt, denn die „Volunteer“ bleibt plötzlich im Packeis stecken – und der verzweifelte Kampf der Crew mit den Naturelementen, mit Eis, Sturm und Hunger überlagert alles andere.

Wie ist es geschrieben?
Ian McGuire beherzigt beim Schreiben das, was Billy Wilder mal als perfekte Filmdramaturgie empfohlen hat: „Mit einem Erbeben beginnen und dann das Ganze langsam steigern.“ „Nordwasser“ packt den Leser von der ersten Seite an und lässt ihn nicht mehr los: Das liegt zum einen an der spannenden und immer dramatischer werdenden Handlung; das liegt aber auch an der Sprache McGuires, die alle Sinn anspricht, und zwar von der ersten Zeile an! Mit diesen Sätzen beginnt der Roman :

„Sehet den Menschen. Er schlurft aus Clappison’s Courtyard heraus auf die Sykes Street und schnüffelt die vielschichtige Luft – Terpentin, Fischmehl, Senf, Grafit, der übliche durchdringende morgendliche Pissegestank geleerter Nachttöpfe. Er schnaubt einmal, streicht sich über den borstigen Kopf und rückt sich den Schritt zurecht. Er riecht an den Fingern, dann lutscht er langsam jeden einzelnen und leckt die letzten Reste ab, um auch wirklich alles für sein Geld zu bekommen.“

In diesem Roman riecht, schmeckt und spürt man die Welt der Seeleute und Walfänger hautnah – das ist nicht immer angenehm – aber fesselnd von Anfang an.

Wie gefällt es?
Ich muss zugeben, ich habe ein Faible für Romane, die vom Meer und von den Urgewalten der Natur handeln - und ich mag Kriminalgeschichten, also Geschichten, die von den Abgründen der menschlichen Natur handeln. Beides bringt dieser Roman auf spannende Weise zusammen. Das ist mitunter drastisch, das ist manchmal auch schwer zu verdaulich, aber in letzter Konsequenz mitreißend geschrieben und mitreißend erzählt – ein fantastischer Roman.

Ian McGuire: „Nordwasser“, übers. von Joachim Körber, mare, 22 EUR, ISBN: 9783866482678

hr-iNFO Büchercheck vom 14.06.2018

Jesmyn Ward: „Singt ihr Lebenden und ihr Toten, singt“  
Der 13jährige Jojo und seine kleine Schwester Kayla leben im Haus der Großeltern in Mississippi. Der Großvater züchtet Ziegen, ist eine Art Selbstversorger. Die Großmutter dämmert krebskrank dem Tod entgegen. Die Mutter jobbt in einer Kneipe, schluckt Drogen, wenn sie sie kriegen kann und hat keine Empathie für ihre Kinder. Der Vater, ein Weißer, sitzt im Knast. Seine Eltern lehnen ihre Enkel und deren Mutter ab, es sind ja Schwarze. Und der Cousin des Vaters hat einst den Bruder der Mutter erschossen, weil der eine Wette gegen ihn gewonnen hatte. Die Tat wurde als Jagdunfall vertuscht.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner den Roman gelesen.

Worum geht es?
Das Setting macht schon klar, es geht um soziales Elend, um tief verwurzelten Rassismus, um Gewalt und Unrecht. Das ist aber nur ein Teil der Geschichte. Es gibt noch Hoffnung für eine bessere Zukunft. Dafür stehen die fürsorglichen Großeltern, die für die beiden Kinder die eigentlichen Eltern sind, dafür steht auch die symbiotische Beziehung der beiden Kinder zueinander. Sie kleben wie Kletten aneinander, stützen sich gegenseitig. Und: diese Menschen verfügen über Kräfte, die ihnen helfen, dem Alltag stand zu halten und nach vorne zu gucken. In ihrer Wahrnehmung tauchen immer wieder Geister von Verstorbenen auf. Jojo, Kayla und ihre Mutter erkennen sie und reden mit ihnen. Es sind der ermordete Bruder der Mutter und ein Junge, der einst im Gefängnis zu Tode kam, weil der Großvater, der dort auch Zwangsarbeit leisten musste,  ihn nicht retten konnte. Diese Figuren heben Raum und Zeit auf, verknüpfen die Vergangenheit mit der Gegenwart. Die Großmutter wiederum, eine Art Heilerin, glaubt nach wie vor an die Götter ihrer nigerianischen Vorfahren. Sie kann erst sterben, wenn diese Götter ihr in einem Ritual den Weg ins friedliche Jenseits weisen. Reale Welt und magische Parallelwelt vermischen sich so ständig. Es ist das Panorama einer schwarzen Südstaatenfamilie.

Wie ist es geschrieben?
Erzählt wird abwechselnd aus der Perspektive Jojos und seiner Mutter. Diese Perspektiven prallen hart aufeinander. Hier der empathische Sohn, dort die egoistische Mutter. Schon daraus ergeben sich dramatische Situationen. Ward erzählt sie mit großer sprachlicher Ausdruckskraft, mit Bildern in fetten und leuchtenden Farben. Ein intensives Erzählen. Das Drama spitzt sich zu, als der Geist des Jungen aus dem Gefängnis darauf drängt, seinen Tod aufzuklären. Der Großvater offenbart schließlich seine tragische Schuld. Er hatte den Jungen aufgespürt, als ein Trupp gewaltbereiter Weißer ihn nach einem Ausbruch suchte.
Er tötete ihn, weil ihn sonst die weißen Häscher brutal zu Tode gefoltert hätten.

Wie gefällt es?
Ich finde, Jesmyn Ward hat ein gleichermaßen zeitkritisches wie phantastisches und vor allem hochemotionales Buch geschrieben. Man muss sich nur darauf einlassen, die magische Einheit von Vergangenheit und Gegenwart als subjektive Realität zuzulassen. Dann wird man dieses Buch als tolle Entdeckung empfinden.

Jesmyn Ward: „Singt ihr Lebenden und ihr Toten, singt“, Verlag Antje Kunstmann, 22 EUR, ISBN: 9783956142246

hr-iNFO Büchercheck vom 07.06.2018 - Jan Weiler: „Kühn hat Ärger“

Jan Weiler ist ein bekannter und sehr erfolgreicher deutscher Autor. So wurden z.B. seine Romane „Maria, ihm schmeckt’s nicht“ und „Und ewig schläft das Pubertier“ verfilmt. Nun hat sich Jan Weiler auch auf das Krimi-Schreiben verlegt.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
An einer Münchener Straßenbahnhaltestelle wird Amir Bilal, Sohn libanesischer Einwanderer, tot aufgefunden. Brutal zusammengeschlagen und –getreten, abgelegt wie Abfall. Kriminalhauptkommissar Martin Kühn, nach einem burn-out wieder im Dienst, ermittelt. Und erfährt, dass Amir bei der Polizei als Intensivtäter bekannt war, aber in den letzten Monaten eine Verwandlung durchlebt hatte: er war freundlich und fleißig geworden, wollte etwas aus seinem Leben machen. Der Grund: Julia van Hauten, die Tochter einer sehr reichen Familie. Zwei Welten haben sich getroffen, so erfährt es Kühn bei einer Befragung im Haus der van Hautens:

„Dann erzählte van Hauten, wie Bilal in ihrem Leben aufgetaucht war. Wie sie ihn gemocht hatten, wie glücklich sie über die bereichernde Beziehung ihrer Tochter mit Amir waren. Wie gern sie ihn um sich hatten. Dass Amir auch mit Julias Bruder Florin eine gute Beziehung hatte. Man habe miteinander Urlaub gemacht, Amir habe ihn auch mal um  Rat gefragt und sei in den paar Monaten unglaublich aufgeblüht. Ein netter, kluger und reflektierter Junge sei er gewesen. Dazu wissbegierig und liebevoll mit seiner Tochter. Himmelherrgott noch mal, ist das alles dufte hier. Das war ein Heiliger unter lauter Heiligen. Aber warum nicht? Was ist daran verkehrt? Sie haben dem Jungen offenbar gutgetan. Und sie haben es gern gemacht. Wenn es mehr Menschen wie diesen Mann gäbe, wäre die Welt ein besserer Ort.“

Wie ist es geschrieben?
Jan Weiler hat einen neuen, eigenen, für einen Krimi ungewöhnlichen Ton. Da ist der Polizist Martin Kühn, der oft am Leben und den Ungerechtigkeiten verzweifelt, der grübelt, nachdenkt und sich fremd fühlt in Gegenwart der wohlhabenden, aber äußerste zuvorkommenden van Hautens. Weiler schildert das mal skeptisch, mal amüsiert, oft aber auch bissig. Nur manchmal schimmert das eher humoristische Potential des  Autors durch, das man aus seinen anderen Büchern kennt. Weiler hat „Kühn hat Ärger“ mit viel Einfühlungsvermögen für sein Personal und mit Interesse für deren Schicksale geschrieben und entwickelt dabei auch einen Roman über den Zustand in unseren Städten.

Wie gefällt es?
Jan Weiler hat mich als Krimi-Autor restlos überzeugt. „Kühn hat Ärger“ ist ein politisches, ein spannendes, ein aufrührendes und überzeugendes Buch. Jan Weiler geht tief hinein in die gesellschaftlichen Probleme, in die Welt der Migranten und der Super-Reichen. Diesen Kontrast hält Polizist Kühn kaum aus – und Weiler schildert dabei auch eine moralische Wohlstandsverwahrlosung, die mich fast sprachlos gemacht hat. Wer aber denkt, diese Geschichte gehe nur um den Konflikt zwischen arm und reich, und dies sei auch der  Grund für den Mord, der hat zu kurz gedacht. Das Buch ist deutlich vielschichtiger, als man auf den ersten Blick denkt…

Jan Weiler: „Kühn hat Ärger“, Verlag Piper, 20 EUR, ISBN: 9783492057578

hr-iNFO Büchercheck vom 24.05.2018 - Wolfgang Schorlau: "Der große Plan"

Der als akribische Rechercheur bekannte Autor Wolfgang Schorlau hat sich diesmal auf die Spur des Geldes der Griechenland-Rettung gemacht.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Privatdetektiv Georg Dengler bekommt einen richtig großen Auftrag: das Auswärtige Amt engagiert ihn, um die EU-Beamtin Anna Hartmann zu finden. Augenscheinlich ist sie mitten in der Nacht in Berlin auf offener Straße entführt worden, ein privates Handy-Video lässt dies vermuten. Mithilfe seiner technisch versierten Freundin gelingt es Dengler, vier verdächtige Männer zu identifizieren. Doch bevor er sie befragen kann, werden sie ermordet. Dengler ist verunsichert, seine Ermittlungen stocken. Er weiß nur: die gesuchte Anna Hartmann war kurz davor, in der EU einen höheren Posten zu belegen. Sie war eine strikte Befürworterin der harten Maßnahmen gegen Griechenland, hat allerdings womöglich kurz vor ihrem Verschwinden ihre Meinung geändert. Als Dengler einen USB-Stick in ihrem Keller findet, glaubt er, die möglichen Entführer aus der Reserve locken zu können.

"Am nächsten Tag traf Dengler sich mit Leopold Harder im Bistro Brenner.
"Ich habe einen Plan - und ich bitte dich, mir zu helfen", sagte Dengler zu ihm.
"Wenn ich kann, gerne".
"Du hast mich auf eine wichtige Spur gebracht. Nehmen wir an, Anna Hartmann hat ein Konzept erarbeitet, das beinhaltet, dass ein großer Teil der griechischen Schulden illegitim ist."
"Sie wird dann einen Schuldenschnitt verlangt haben".
"Ja. Wir werden einen Text in diesem Sinn verfassen. Wichtig ist, dass die Entführer glauben, wir hätten das, was sie suchen".
"Dazu müssten wir irgendwie mit den Entführern Kontakt aufnehmen. Dummerweise wissen wir nicht, wer sie sind."

Wie ist es geschrieben?
Wolfgang Schorlau ist kein Literat, kein Meister des feinen Stils. Seine Bücher leben vielmehr von der Recherche, von den Fakten, die er mithilfe einer spannenden Erzählung präsentiert. Und das kann er, und zwar gut. Die Sprache ist dabei klar, präzise, nur bei den privaten Randfiguren mitunter etwas geschwätzig.

Wie gefällt es?
Wolfgang Schorlau erzählt in seinem Krimi "Der große Plan" über die Hintergründe der Griechenland-Rettung, davon, warum gerade Griechenland in diese Krise geraten ist und wer daran ein Interesse hatte. Diese Recherche geht allerdings kaum über bereits bekannte Fakten hinaus, auch wenn diese bislang nur wenig öffentlich debattiert wurden. Von daher finde ich es gut, dass dies in Form eines Krimis dargestellt wird und damit auch Menschen erreicht, die nicht die Hintergrund-Recherchen in Radio, Fernsehen oder Tageszeitungen verfolgen. Zu viel Platz bekommen haben in diesem Krimi für mich aber die Verbrechen der Nationalsozialisten in Griechenland während des 2. Weltkrieges und die Folgen bis in heutige Generationen. Da hätte ich lieber mehr von den Kungeleien mit den Griechenland-Milliarden gelesen.

Wolfgang Schorlau: "Der große Plan", Kiepenheuer & Witsch, 14,99 EUR, ISBN: 9783462046670

hr-iNFO Büchercheck vom 17.05.2018 - Serhij Zhadan: „Internat“

Der 43 jährige Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan ist eine Größe in der Ukraine. Er kennt aus eigenem Erleben, die Gewalt, die Angst, die Willkür, den täglichen Überlebenskampf, die Entmenschlichung, die täglichen Absurditäten. Aber auch die Kraft, den Überlebenswillen, die Zuversicht und das kulturelle Bewusstsein, an dem sich Menschen im Grauen orientieren und sich so weder selbst noch ihre Menschlichkeit preisgeben. In seinem neuen Roman bringt Zhadan beides zusammen.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Pascha ist Ukrainisch-Lehrer, spricht selbst aber russisch. Den Krieg versucht er zu ignorieren. Sein Vater reißt ihn aus dieser Realitätsverweigerung. Pascha soll seinen Neffen aus einem Internat nach Hause holen, das in der Kampfzone liegt. Er muss sich durchschlagen: zerstörte Landschaften, ruinöse Städte, wirre Frontlinien. Zu Fuß, mit Taxis oder Bussen. Er trifft auf panische Flüchtlinge, undurchsichtige Typen, Gewalttäter. Ständig steht er vor der Frage: Freund oder Feind? Die Angst ist der ständige Begleiter. Das Überleben: ein Glücksfall. Zum Beispiel als er seinen Neffen gefunden hat und sie in einem Bus auf dem Weg nach Hause sind. Da werden sie von Soldaten angehalten. Die Situation wird bedrohlich, aber ein junger Soldat, der ihm zunickt, sorgt dafür, dass sie passieren können.

„Erst da spürt Pascha, dass er Angst hat. Ein Gefühl klebriger, kalter Angst. Als wäre jemand zu ihm gekommen, hätte seinen Tod aus einem Sack genommen, ihn ihm gezeigt und dann wieder zurückgelegt, in den Sack. Er hat ihn aber schon gesehen. Und weiß, dass man ihn jederzeit und überall wieder hervorholen kann. Woher kennt er ihn bloß, diesen jungen Soldaten? Wer ist das? Wer war das?“
Es war ein früherer Schüler. Glück gehabt. Die beiden kommen schließlich entkräftet aber lebend nach Hause. Der Weg hat sie geprägt. Pascha hat seine Passivität überwunden, übernimmt Verantwortung und Initiative. Der Neffe ist in zwei Tagen erwachsen geworden.

Wie ist es geschrieben?
Zhadan erzählt chronologisch aus einer Beobachter-Perspektive, unterbrochen durch Rückblenden in die Vergangenheit Paschas und durch Einblicke in seine Gedanken- und Traumwelten. Erst zum Ende hin ändert sich die Perspektive. Dann tritt ein Ich-Erzähler auf. Es ist der Neffe. Aus Erzähltem wird Erlebtes, eine Quelle. In einem Krieg, in dem die Wahrheit auf der Strecke blieb, ist das eine Kampfansage der Kunst an die Politik. Und Kunst ist dieses Buch in geradezu atemberaubender Weise. Zhadan findet Bilder für alle Varianten des Leidens, der Hoffnung, der Sehnsucht. Und es gelingt ihm, mit seiner Sprache in der apokalyptischen Handlung Ästhetik und Poesie zu manifestieren. In Handlung und Stil bringt er zusammen, was eigentlich nicht zusammen passt.

Wie gefällt es?
„Internat“ ist ein ganz starkes Buch. Eine packende Handlung mit reflektierendem Tiefgang, geschrieben in einer feinen und zugleich kräftigen Sprache. Für mich ist es das stärkste Buch dieses Halbjahres.

Serhij Zhadan: „Internat“, Suhrkamp Verlag, 22 EUR, ISBN: 978-3518428054

hr-iNFO Büchercheck vom 10.05.2018 - Anne Reinecke: „Leinsee“

„Leinsee“ heißt ein neuer Roman aus diesem Frühjahr. Seine Autorin Anne Reinecke wurde 1978 geboren, „Leinsee“ ist ihr Debüt. Ein Grund, mal wieder gespannt zu sein auf eine neue Erzählerstimme.

hr-iNFO Büchercheckerin Sylvia Schwab hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Karl ist Ende zwanzig und ein erfolgreicher Künstler in Berlin. Am Beginn des Romans erfährt er per Telefon, dass sein Vater sich das Leben genommen hat, weil seine Mutter eine sehr schwierige Hirnoperation hatte, die sie möglicherweise nicht überleben wird. Karls Eltern waren das Glamourpaar der deutschen Kunstszene. Sie zelebrierten ihr Künstlertum international, was der Sohn immer lächerlich fand. Als Karl jetzt vom Selbstmord des Vaters erfährt, reist er nach Leinsee am Leinsee, wo seine Eltern in einem Riesenanwesen wohnen, um sich um die Beerdigung und seine frisch operierte Mutter zu kümmern.

„Mara. Als der Anruf gekommen war, war sie ans Telefon gegangen. Sie hatte die Stirn gerunzelt und gesagt: „Ja. Einen Moment.“ Sie hatte ihm den Hörer gereicht und ihn nicht mehr aus den Augen gelassen, die Hand auf der Brust in Ahnungspose, zu allem Überfluss auch noch umleuchtet von der Sonne, die hinter ihr durchs Fenster fiel. Mara Dolorosa.“

Wie ist es geschrieben?
Anne Reinecke versteht es, zwei sehr unterschiedliche Geschichten miteinander auszubalancieren. Da ist der Künstlerroman, der frech und ironisch daherkommt. Eine sehr pointierte Satire auf den Kunstbetrieb, auf die leere Aufgeblasenheit von Künstlern und Galeristen, Rezensenten und Interviewern. Da gibt es Situationen und Typen, die sind echt zum Lachen! Dazu kommt aber noch eine ganz besondere Freundschafts- und Liebesgeschichte, die Anne Reinecke heiter, leicht und sehr liebevoll in Szene setzt. Aber nie kitschig oder sentimental.

Wie gefällt es?
Sehr gut!! Denn Anne Reinecke ist es gelungen, die zarte Freundschaft zwischen Karl und einem kleinen Mädchen – Tanja – so zauberhaft zu entwickeln, dass dieses Thema keinen Moment lang schräg rüberkommt. Es ist eine ganz zarte Begegnung und später Verbindung zwischen dem Kind und dem Mann, und dann eine ganz langsam wachsende Liebe. Anne Reinecke bürstet beide Genres, den Künstlerroman wie die Liebesgeschichte, gegen den Strich. Das ist mutig und originell vom Konzept her und sensibel und spielerisch umgesetzt. Ich habe diesen Roman sehr gerne gelesen!!  

Anne Reinecke: „Leinsee“,  Diogenes Verlag, 24 EUR, ISBN: 978-3257070149

hr-iNFO Büchercheck vom 03.05.2018 - Maile Meloy: „Bewahren Sie Ruhe“

„Bewahren Sie Ruhe“ heißt der Thriller der US-Amerikanerin Maile Meloy – die 1972 in Montana geborene Autorin ist schon vielfach für ihre Romane und Kurzgeschichten ausgezeichnet worden. In ihrem neuen Roman verbindet sie einen nervenkitzelnden Entführungsfall mit einer Familien-  und Beziehungsgeschichte.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Liv und Nora sind Cousinen, seit ihrer Kindheit dick befreundet und genießen mit ihren Männern die ersten Tage auf dem luxuriösen Kreuzfahrtschiff. Die Kinder wissen sie gut untergebracht im Kids Club. Sie freunden sich mit einem argentinischen Paar an, das ebenfalls zwei, allerdings ältere Kinder hat. Bei einem Stopp im Regenwald gehen sie erstmals an Land – die Männer wollen golfen, die Frauen und Kinder planen einen Ausflug ins Landesinnere. Doch ihr Auto hat eine Panne.  Fremdenführer Pedro improvisiert und führt sie an einen idyllischen Strand an einer Flussmündung. Alle sind zufrieden, die Kinder planschen im Wasser, Nora begibt sich mit Pedro auf die Suche nach einem seltenen Vogel ein Stück in den Wald, und Liv nickt ein. Als sie aufwacht, sind die Kinder weg. Die Flut hat sie auf ihrem Floß aus alten Autoreifen den Fluss hochgetrieben – doch sie sind nirgends zu finden. Als die Polizei Autospuren und eine vergrabene männliche Leiche entdeckt, steigert sich die Angst der Eltern ins Unermessliche.

Wie ist es geschrieben?
„Bewahren Sie Ruhe“ von Maile Meloy ist ein klassischer Thriller: kurze Kapitel, knappe Dialoge, immer wieder neue dramatische Ereignisse: das alles macht das Buch ungeheuer spannend. Dabei wird in abwechselnden Kapiteln von der Suche der Eltern und der Polizei nach den Kindern und aus der Perspektive der entführten Kinder  berichtet. Immer im Mittelpunkt der Gedanken der Eltern:  Wer hat Schuld daran, dass die Kinder verschwunden sind?

„Liv hatte erzählt, wie der Tourguide so getan hatte, als würde er unter Wasser gezogen. Spätestens da hätte sich Raymond seine Familie geschnappt und wäre abgehauen. Egal, ob man ihm vorgeworfen hätte, keinen  Spaß zu verstehen. Egal, ob seine Kinder ihn uncool gefunden hätten. Er wäre mit ihnen zurück zur Straße gelaufen und hätte da auf ein Taxi gewartet.“

Wie gefällt es?
„Bewahren Sie Ruhe“ ist ein klassischer page-turner, ein Buch, das ich kaum aus der Hand legen konnte, so voller Spannung, so rasant die Geschichte. Besonders stark fand ich auch die Schilderungen über das Innenleben der Ehepaare, die Veränderung in den Beziehungen, die die Angst bei ihnen auslöst. Ähnliches bei den Kindern: es gibt Annäherungen und Sympathien, es gibt ängstliche und schlaue, starke und schwache. Und immer die Frage: werden sie überleben, werden sie gerettet? Und was ist danach? Kann es nach so einem Trauma wieder einen Alltag geben? „Bewahren Sie Ruhe“ von Maile Meloy erzählt eine Geschichte, wie eine Sekunde, ein unachtsamer Moment, eine Kette furchtbarer und tödlicher Folgen nach sich ziehen kann. Ein starkes Buch.

Maile Meloy : „Bewahren Sie Ruhe“, Verlag Kein & Aber, 23 EUR, ISBN: 9783036957760

hr-iNFO Büchercheck vom 26.04.2018 - Torsten Schulz: „Skandinavisches Viertel“

Drei Mal Deutschland bietet der neue Roman von Torsten Schulz. Die DDR, das wiedervereinigte Land und Nazideutschland.  Im Mittelpunkt steht Matthias, ein Kind der 60er Jahre, mauererfahren, gleichermaßen sozialismus- und kapitalismusgeschult. Daneben seine Eltern und ein Onkel, Gewächse der DDR. Außerdem die Großeltern, verstrickt in den Nationalsozialismus. Und natürlich ihr Milieu, kleine Leute, Mietwohnung, im Skandinavischen Viertel, einem Kiez am Prenzlauer Berg.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Matthias ist ein gewitzter Typ. Als Kind reizt er die Grenzsoldaten mit Fragen nach den skandinavischen Namen der Straßen im Schatten der Mauer. So testet er die Grenzen seiner Freiheit, wenn er schon nicht ins echte Skandinavien kann. Das kennt er nur aus Erzählungen seines versoffenen Onkels, der mal als Hilfsarbeiter eines DDR-Zirkus dort war. Als junger Mann sucht er nach einem Journalismus-Studium in Leipzig die Freiheit in Los Angeles. Auch dort überschreitet er die Grenzen, als er anfängt Stories zu erfinden. Irgendwann fliegt er auf und kommt zurück. Er wird Makler in der aufstrebenden Hauptstadt. Spezialisiert auf sein Viertel. Er verkauft nur an Leute, die für ihn in das Soziotop des Skandinavischen Viertels passen. Ein widerständiger, ja anarchischer Typ. Aber auch ein melancholischer. Am Ende trickst ihn ein Immobilienhai aus. Und auch bei den Frauen scheitert er. Aus dem Existenzialismus Albert Camus hat er seine Lebenshaltung entwickelt. Immer weiter machen, um das Scheitern wissen, daher nicht zu viel geben, die Dinge nicht so ernst nehmen, eher verdrängen und ein wenig Spaß dabei haben.

Wie ist es geschrieben?
Torsten Schulz ist ein leiser Erzähler. Aber was er erzählt, ist das Ergebnis genauer Milieubeobachtung und präzise und liebevoll nachempfunden, in meist kurzen Sätzen und anziehenden Bildern. Die Einsichten ins Leben kommen hier unaufgeregt, fast lapidar und oft überraschend um die Ecke. Manchmal in Form von Redensarten. Zum Beispiel als Matthias nach dem Krebstod seiner Mutter der Oma die Einkaufstaschen nach Hause trägt.

„Auf dem Weg zur Wohnung reden sie kein Wort miteinander. Erst in der Küche, als er die beiden Taschen abstellt, sagt die Großmutter, ohne den Gedanken irgendwie einzuleiten: „Eigentlich wäre ich an der Reihe gewesen. Stattdessen… Das Schicksal spielt verrückt, anders kann man das nicht ausdrücken.“ Kaum hat sie den Satz beendet, korrigiert sie sich: „Wahrscheinlich ist es ganz einfach: Was an der Reihe ist, muss gehen. Das ist die Bestimmung. Daran glaube ich. Das hab ich  mir von den Nazis nicht verbieten lassen und von den Kommunisten auch nicht.“

Wie gefällt es?
Ich habe auf einer Zugfahrt begonnen, das Buch zu lesen und konnte es nicht mehr weglegen. Ich war ungehalten, als ich ankam und meinen Lesetrip ins Skandinavische Viertel unterbrechen musste. Von der ersten Seite an hat mich dieses Buch gefesselt. Es steckt so viel Leben darin, Wahrheit und Witz. Schade, dass es irgendwann vorbei war. Ich hätte gerne erfahren, ob Matthias doch noch sein Glück findet.

Torsten Schulz: „Skandinavisches Viertel“, Verlag Klett-Cotta, 20 EUR, ISBN: 9783608981377


hr-iNFO Büchercheck vom 19.04.2018

Janet Lewis: "Die Frau, die liebte"
Es geht um einen Kriminalfall aus dem 16. Jahrhundert. In Südfrankreich war der Bauer und Familienvater Martin Guerre plötzlich verschwunden. Jahre später tauchte er scheinbar wieder auf. Tatsächlich jedoch war es ein Betrüger, der sich da als Martin Guerre ausgab. Dieser historische Kriminalfall hat schon den Stoff für einige Bücher und Filme geliefert. Auch die Amerikanerin Janet Lewis hat sich in ihrem Roman „The wife of Martin Guerre“ mit diesem Thema beschäftigt, der jetzt auf Deutsch erschienen ist unter dem Titel „Die Frau, die liebte“.

hr-iNFO Büchercheckerin Sylvia Schwab hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Andere Erzähler hätten aus diesem gut dokumentierten juristischen Fall sicherlich einen dicken Schmöker gemacht. Janet Lewis aber erzählt auf nur knapp 150 Seiten sozusagen die „Rückseite“ der dramatischen Geschichte. Sie stellt Martin Guerres Frau Bertrande in den Mittelpunkt. Aus ihrer Sicht berichtet sie von Martins Verschwinden, seinem überraschenden Wiederauftauchen nach 8 Jahren, von glücklichen Jahren und aufkommendem Misstrauen dem Hochstapler gegenüber. Und dann von dem nervenaufreibenden Prozess mit unzähligen Zeugen, der auch noch in die Berufung ging, bis der echte Martin Guerre plötzlich auftauchte und der Falsche zum Tode verurteilt wurde.

Wie ist es geschrieben?
Janet Lewis erzählt sehr genau und einfühlsam von Bertrandes tiefer Verunsicherung dem zurückgekehrten Mann gegenüber– aber niemals rührselig. Wie dieser Roman überhaupt nie pathetisch wird, sondern in einer klaren, konturierten Sprache geschrieben ist. Mit liebevoll-detailreichen Schilderungen von Menschen oder der kargen südfranzösischen Landschaft, aber nie überschwänglich. Hier wird eine große historische Betrugs- und Gerichtsgeschichte in ihrer ganzen psychologischen Tiefe und Komplexität begreifbar. Wie in der folgenden Szene, Bertrande betritt das Gerichtsgebäude:

„Kann ich mich denn irren?“ fragte sie sich abermals, als sie die Steinstufen erklomm. Vor dieses Tribunal von Toulouse zu treten besaß für sie Endgültigkeit. Es gäbe keine Möglichkeit, gegen die Entscheidung Einspruch zu erheben. Der richterliche Entschluss erwartete sie dort, hinter den geschlossenen Türen, und hatte etwas von Untergang an sich. Mit einem Mal wich alles Selbstvertrauen von ihr, und Entsetzen überflutete sie.“

Wie gefällt es?
Ich habe diesen Roman fasziniert gelesen! Wegen seiner so sensiblen, eindringlichen Sprache, und wegen eines Themas, das überholt zu sein scheint und doch so aktuell ist. Denn gibt es nicht auch heute wieder unter den Immigranten zigtausende von Menschen, deren Identität wir nicht kennen? Die sich vielleicht fälschlicherweise ausgeben als Brüder oder Ehemänner? Oder umgekehrt wirklich Brüder oder Ehemänner sind, aber nicht mehr erkannt werden nach acht Jahren Krieg? Und: Sind die Fragen, inwieweit wir lieber unserem Gefühl vertrauen oder unserem Verstand, welchen Betrug wir verzeihen können oder nicht und ob es nicht auch gute Betrüger gibt, nicht eine ganz existentielle? Ich finde: Ja!!

Janet Lewis: "Die Frau, die liebte", dtv, 18 EUR, ISBN: 9783423281553

hr-iNFO Büchercheck vom 12.04.2018

Andreas Maier: „Die Universität“
Die Kreise weiten sich. Andreas verlässt die Wetterau, das vertraute Gelände. Er zieht in die Großstadt, versucht sich an der Universität zu orientieren. Ein doppelter Sprung also. Alles ist anders. Der Erstsemester-Student fühlt sich als Würstchen unter den wichtig und wissend erscheinenden älteren Kommilitonen.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Maiers Held beobachtet die anderen und sich selbst, setzt sich zu den unterschiedlichsten Typen an der Uni in Beziehung, definiert seinen Standort in dieser Welt und mögliche Rollen für sich. Er sucht nach seiner Identität. Und so kommt es, dass der Philosophiestudent darüber philosophiert, ob er denn nun Subjekt oder doch vielleicht nur Objekt ist. Ob er eine Person ist oder aus mehreren nebeneinander existierenden Personen besteht. Und er entdeckt für sich, dass das Wort  „ich“ der Mittelteil des Wortes „nichts“ ist. Oder dass das Individuum nur sich selbst also solches sieht, während es für die anderen in der Regel nur als Teil der Masse sichtbar wird. Zum Beispiel in der Rush-Hour bei der Heimfahrt von der Uni in die Wetterau.

„Zeitlich fahren sie acht Stunden später dann von Millionen Parkplätzen wieder los, durch alle Straßen zurück, an allen Häusern, allen Menschen, allen Plätzen, an allem vorbei, und sammeln sich, Abend für Abend, zu jenem finalen Bild am Nordwestkreuz, dem ewig wiederholten Stillstand unserer Zielhaftigkeit, in dem wir aufgelöst werden und aufgehen in der Masse der vollkommen Gleichheit ohne Namen, Rang, Geschichte, Herkunft, Person, Eigenschaft, Wille, Geschlecht. Und sitzen in den Autos mit unserer uns nach wie vor unauslöschlich erscheinenden Individualität.“

Wie ist es geschrieben?
Andreas Maier erzählt diese Reifung eines intellektuellen Ichs im Wesentlichen chronologisch und episodisch. Es gibt irritierende Begegnungen und Beobachtungen an der Uni, verzweifelte Selbstbespiegelungen, kleine Fluchten in die Sicherheit der provinziellen Heimat und Versuche in Frankfurt ein neues Zuhause einzurichten, räumlich und sozial.  Maier registriert das alles, verbindet es aber analytisch. Immer wieder tritt der Autor daher aus seinem gleichnamigen, mehr oder weniger autobiografischen Helden heraus. Das wird dann zum Beispiel durch Komik markiert. So wird der Held etwa im Zustand der größten Verwirrung allergisch gegen sich selbst, kriegt Pickel und Magenkrämpfe. Oder er hat einen Job als Pfleger der spinnerten Witwe des Philosophen Adorno. Diese Aufgabe bringt ihn in seiner Persönlichkeitsentwicklung weiter. Darüber hinaus birgt diese Episode in ihren erzählerischen Details aber auch ein Feuerwerk an komischen Einfällen.

Wie gefällt es?
Ich finde, Maier bringt zwei Dinge gut zusammen. Er analysiert, wie aus einem provinziellen Pennäler eine intellektuelle Persönlichkeit reift. Und er erzählt das in prägnanten Beobachtungen, Ereignissen und Handlungen. Dass dieses Erzählen auch immer wieder überraschend und sogar lustig wirkt, das macht für mich die besondere Qualität des Romans aus.

Andreas Maier: „Die Universität“, Suhrkamp Verlag, 20 EUR, ISBN: 9783518427859

hr-iNFO Büchercheck vom 05.04.2018 - Wolfgang Schorlau: "Der große Plan"

Der als akribische Rechercheur bekannte Autor Wolfgang Schorlau hat sich diesmal auf die Spur des Geldes der Griechenland-Rettung gemacht.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.
Worum geht es?

Privatdetektiv Georg Dengler bekommt einen richtig großen Auftrag: das Auswärtige Amt engagiert ihn, um die EU-Beamtin Anna Hartmann zu finden. Augenscheinlich ist sie mitten in der Nacht in Berlin auf offener Straße entführt worden, ein privates Handy-Video lässt dies vermuten. Mithilfe seiner technisch versierten Freundin gelingt es Dengler, vier verdächtige Männer zu identifizieren. Doch bevor er sie befragen kann, werden sie ermordet. Dengler ist verunsichert, seine Ermittlungen stocken. Er weiß nur: die gesuchte Anna Hartmann war kurz davor, in der EU einen höheren Posten zu belegen. Sie war eine strikte Befürworterin der harten Maßnahmen gegen Griechenland, hat allerdings womöglich kurz vor ihrem Verschwinden ihre Meinung geändert. Als Dengler einen USB-Stick in ihrem Keller findet, glaubt er, die möglichen Entführer aus der Reserve locken zu können.

"Am nächsten Tag traf Dengler sich mit Leopold Harder im Bistro Brenner.
"Ich habe einen Plan - und ich bitte dich, mir zu helfen", sagte Dengler zu ihm.
"Wenn ich kann, gerne".
"Du hast mich auf eine wichtige Spur gebracht. Nehmen wir an, Anna Hartmann hat ein Konzept erarbeitet, das beinhaltet, dass ein großer Teil der griechischen Schulden illegitim ist."
"Sie wird dann einen Schuldenschnitt verlangt haben".
"Ja. Wir werden einen Text in diesem Sinn verfassen. Wichtig ist, dass die Entführer glauben, wir hätten das, was sie suchen".
"Dazu müssten wir irgendwie mit den Entführern Kontakt aufnehmen. Dummerweise wissen wir nicht, wer sie sind."

Wie ist es geschrieben?
Wolfgang Schorlau ist kein Literat, kein Meister des feinen Stils. Seine Bücher leben vielmehr von der Recherche, von den Fakten, die er mithilfe einer spannenden Erzählung präsentiert. Und das kann er, und zwar gut. Die Sprache ist dabei klar, präzise, nur bei den privaten Randfiguren mitunter etwas geschwätzig.

Wie gefällt es?
Wolfgang Schorlau erzählt in seinem Krimi "Der große Plan" über die Hintergründe der Griechenland-Rettung, davon, warum gerade Griechenland in diese Krise geraten ist und wer daran ein Interesse hatte. Diese Recherche geht allerdings kaum über bereits bekannte Fakten hinaus, auch wenn diese bislang nur wenig öffentlich debattiert wurden. Von daher finde ich es gut, dass dies in Form eines Krimis dargestellt wird und damit auch Menschen erreicht, die nicht die Hintergrund-Recherchen in Radio, Fernsehen oder Tageszeitungen verfolgen. Zu viel Platz bekommen haben in diesem Krimi für mich aber die Verbrechen der Nationalsozialisten in Griechenland während des 2. Weltkrieges und die Folgen bis in heutige Generationen. Da hätte ich lieber mehr von den Kungeleien mit den Griechenland-Milliarden gelesen.

Wolfgang Schorlau: "Der große Plan", Kiepenheuer & Witsch, 14,99 EUR, ISBN: 9783462046670

hr-iNFO Büchercheck vom 29.03.2018 - Szczepan Twardoch: "Der Boxer"

Szczepan Twardoch ist Jahrgang 1979 und ein Star der polnischen Literaturszene. Sein neuster Roman "Der Boxer" hat das Zeug dazu, die konservativen, nationalistischen Kreise in Polen in Rage zu versetzen.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Der Roman spielt im Warschau des Jahres 1937. Der titelgebende Boxer ist Jakob Shapiro - er ist Schwergewichtsmeister, er ist der Inbegriff eines wehrhaften Juden, und er ist ein Killer, der gleichzeitig Auftragsmorde für die Warschauer Mafia erledigt - eine Mafia, die zwar ein skrupelloses Verbrechersyndikat ist, die aber gleichzeitig Stellung bezieht gegen den faschistischen Nationalismus, der sich anschickt, mit einem blutigen Putsch die Macht zu übernehmen. Das alles ergibt ein komplexes Bild der polnischen Vorkriegsgesellschaft, einer zerrissenen Gesellschaft, in der Straßenschlachten, Erpressungen, politische Intrigen und ein grassierender Antisemitismus an der Tagesordnung sind.

Wie ist es geschrieben?
Szczepan Twardoch erzählt die Geschichte von Aufstieg und Fall des Jakob Shapiro in Stil eines noir-Krimis: düster, direkt und harten schwarz-weiß-Kontrasten. Gewalt ist allgegenwärtig in der Welt Shapiros: Ob auf der Straße, in den Kneipen und Bordellen oder im Fond seines Buick:

"Shapiro drehte sich langsam auf seinem Sitz um, und Munja hatte, ehe er sich versah, den Lauf einer Pistole an der Stirn, eines kleinen Colt 1903 mit perlenbesetztem Kolben, der zwischen Shapiros Fingern glitzerte. "Reiß die Fresse noch einmal ungebeten auf, dann landest du im Kofferraum neben diesem Scheißkerl", flüsterte Jakub."

Die Brutalität dieses Romans ist teilweise verstörend, nicht zuletzt deshalb, weil Twardoch mit Bildern von Gewalt und Demütigungen arbeitet, die wir eher aus Beschreibungen des Holocaust kennen. Und dann ist da auch noch der Erzähler des Romans, Mosche Bernstein, dessen Vater von Shapiro auf grausame Weise ermordet wird, und der sich trotzdem dessen Syndikat anschließt - aus Bewunderung für dessen Wehrhaftigkeit. Und so lautet der erste Satz des Romans:

"Meinen Vater hat ein großer gutaussehender Jude mit breiten Schultern und dem mächtigen Rücken eines makkabäischen Kämpfers getötet."

Wie gefällt es?
"Der Boxer" ist ein mitreißendes Gangsterepos, schonungslos, packend und schwindelerregend in seiner Auflösung der Grenzen zwischen Opfern und Tätern. Vieles von dem, was hier über die Warschauer Vorkriegszeit, über die gesellschaftliche Spaltung und politische Radikalisierung erzählt wird, war mir vollkommen unbekannt. Es sollte mich nicht wundern, wenn dieser Roman so gar nicht ins Geschichtsbild der aktuellen national-konservativen Regierung passt - um so wichtiger, dass Szczepan Twardoch dieses dunkel Kapitel der polnischen Vergangenheit so effektvoll und überzeugend in Szene gesetzt hat.

Szczepan Twardoch: "Der Boxer", aus den Polnischen von Olaf Kühl, Rowohlt Berlin, 22,95 EUR, ISBN: 9783737100083

hr-iNFO Büchercheck vom 22.03.2018

Liv Strömquist: „Der Ursprung der Liebe“
Liv Strömquist zeigt uns in ihrem Comic „Der Ursprung der Liebe“, dass fast nichts, was wir als „natürlich“ in Bezug auf Liebe und Partnerschaft empfinden, auch wirklich ganz natürlich ist.

hr-iNFO Büchercheckerin Tanja Küchler hat den Comic gelesen.

Worum geht es?
Strömquist verbindet nordische Göttinnen, soziologische Theorien und die Psychoanalyse und lässt die Essenz daraus lebendig werden - in alltäglichen Situationen von Durchschnittspärchen genauso wie in den großen Liebestragödien der Popkultur. Unmissverständlich, scharfsinnig und überzeugend macht sie klar: in Sachen Liebe und Beziehungen sind eine ganze Reihe von unbewussten Annahmen, von Missverständnissen und sogar psychologischen Störungen im Spiel. Wenn sie z. B. der Frage nachgeht, warum Frauen sich so häufig von Männern angezogen fühlen, die sie emotional am langen Arm verhungern lassen. Oder warum ausgerechnet der Übergang zur Heirat aus Liebe mit einer prüderen Einstellung zum Sex einhergegangen ist.

Wie ist es geschrieben?
Liv Strömquist serviert uns eine sehr lesenswerte Sammlung kurzer Comics voller Theorie-Highlights, umgesetzt als rasante, schwarz-weiße Bildergeschichten mit Fun-Comic-Ästhetik. Teils witzig und bissig, teils berührend gefühlvoll in poetische Bilder gefasst. Sie nimmt das Thema ernst – behält sich dabei aber eine Leichtigkeit und Selbstreflexivität, die Spaß und Lust macht, ihr bei ihren Gedankengängen zu folgen. Sie dreht und wendet alles, was wir im Allgemeinen als normal in Bezug auf die Liebe empfinden, – und überzeichnet es bis ins Absurde:

„(Sie:) „Wir lieben einander.“
(Er:) „Das bedeutet, dass ich bestimmen darf, was du mit deinem Körper machst.“
(Sie:) „Ok. Darf ich einen Schweden schminken?“
(Er:) „Ja!“
(Sie:) „Darf ich einen Magier martern?“
(Er:) „Ja!“
(Sie:) „Darf ich den Kaschmirpullover eines Kollegen kraulen?“
(Er:) „Ja! - Aber wenn deine Genitalien auf irgendeine Weise in Kontakt mit einem anderen menschlichen Körper kommen, krachen meine Psyche und mein Selbstwertgefühl zusammen wie ein Kartenhaus und ich brauche Jahre, um mich davon zu erholen.““

Wie gefällt es?
Ihre Comics haben mir nicht nur zu vielen neuen Einsichten verholfen, sondern mich auch ganz oft zum Schmunzeln und zum Lachen gebracht. Auch wenn ich dabei oft gleichzeitig ziemlich schlucken musste. Denn die größte Stärke des Buchs ist das vorwegnehmende Entkräften von allen „Ja-aber-Einwänden“, die Einem beim Lesen gegen ihre Entzauberung der „Liebe“ einfallen könnten. Ein tolles, schlaues, witziges Buch – das ich jedem empfehlen möchte: verblendeten Romantikern, Desillusionierten, Verschmähten und unbedingt auch frisch Verliebten!

Liv Strömquist: „Der Ursprung der Liebe“, Übersetzung aus dem Schwedischen von Katharina Erben Comic, avant Verlag, 20 EUR, ISBN: 9783945034897

hr-iNFO Büchercheck vom 15.03.2018

Kristine Bilkau: „Eine Liebe, in Gedanken“
Antonia und Edgar lernen sich 1964 in Hamburg kennen. Beide sind Kriegskinder,  kennen die Entbehrung, die Enge in Familie und Gesellschaft. Sie verlieben sich ineinander,  glauben, super zueinander zu passen. Dann bewirbt sich Edgar für einen Job in Honkong. Antonia soll nachkommen. Sie schreiben sich, versichern sich ihrer Liebe und irgendwann kommt dann per Telegramm die Ankündigung, Antonia möge sich für den Umzug vorbereiten. Das Flugticket folge. Antonia kündigt Job und Wohnung. Aber das Ticket kommt nicht. Sie versucht mit anderen Männern Edgar zu vergessen, bekommt eine Tochter, stirbt irgendwann ziemlich einsam an Herzschwäche.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Warum hat Edgar sein Versprechen nicht gehalten? Was ist passiert? Diese Frage bleibt für Antonia unbeantwortet. In dem Roman sucht Antonias Tochter nach einer Antwort. Sie rekonstruiert anhand von Briefen, Fotos und Erinnerungen. Im Verlauf der Rekonstruktion kommen Zweifel auf, ob die Beiden wirklich so gut zueinander passten. Ob sie sich das nicht nur vormachten, weil sie es sich wünschten. Mehr Projektion als Realität? Es gibt zum Beispiel diesen Dialog ein paar Tage vor der Abreise Edgars nach Honkong:

„“Die Gegenwart ist das Rohmaterial, aus dem die Zukunft geformt wird“, sagt er auf einmal. Sie blickt ihn erstaunt an. „Ja?“, sie fühlt sich noch immer nicht richtig wach. „Dann ist das hier Rohmaterial?“ „Nein, ich habe nur gerade an die ersten Wochen in Hongkong gedacht. Die sind das Rohmaterial.“ „Ach so“, sagt sie. „Und das hier, was ist das hier?“ „Eine kleine Traumwelt.““

Schon hier, etwa in der Mitte des Buchs, scheint im glücklichsten Moment eine Ahnung des Scheiterns durch.

Wie ist es geschrieben?
Kristine Bilkau montiert zwei Zeitschienen. Zum einen chronologisch das Geschehen der 60er Jahre, versehen mit konkreten Tagesdaten. Zum anderen die Rekonstruktion der Tochter in unserer Zeit. Die eine Schiene ist unmittelbar und bleibt in der Welt und Gedankenwelt Antonias und Edgars. Die andere ist die reflektierte, die bewertende. Die Tochter kommentiert gewissermaßen das historische Geschehen und bringt ihren eigenen Antrieb als Spurensucherin ein. Diese Kombination verstärkt einerseits die Emotionalität des Buchs, andererseits erzeugt sie einen permanent wachsenden Spannungsaufbau, der in einer Begegnung zwischen der Tochter und Edgar mündet.

Wie gefällt es?
Der Roman hat mich von der ersten Seite an gepackt. Schon die Grundfrage ist fesselnd. Warum scheitert etwas, was als Liebe des Lebens empfunden wird? Dann ist es die Dramaturgie der beiden Zeitschienen, die die Spannung, manchmal mit Verzögerungen, immer höher treibt. Und schließlich die Sprache Bilkaus. Reportagehaft mit vielen beschreibenden Details, aber auch sehr fein ziselierten Stimmungen, die Bedeutung tragen. Sehr gekonnt und anziehend.

Kristine Bilkau: „Eine Liebe, in Gedanken“,  Luchterhand Verlag, 20 EUR, ISBN: 9783630875187

hr-iNFO Büchercheck vom 08.03.2018


Margriet de Moor: „Von Vögeln und Menschen“
Schon Margriet de Moors erster Roman „Erst grau dann weiß dann blau“ war ein sensationeller Erfolg, es folgten weitere Romane, in denen es um komplizierte Menschen und Beziehungen geht, geschrieben in einer eigenwilligen Sprache und einem eigensinnigen Ton. Hier in „Von Vögeln und Menschen“ gibt es zwei Morde, man könnte deswegen denken, dass es sich um einen verkappten Krimi dreht. Doch das ist nicht der Fall. Margriet de Moor geht es darum, wie Menschen sich in extremen Situationen verhalten und verändern. Und wie schwierig es ist, sie wirklich zu kennen und zu begreifen.

hr-iNFO Büchercheckerin Sylvia Schwab hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Vögel spielen eine vielfältige Rolle in „Von Vögeln und Menschen“. Sie stehen für die Freiheit der Gedanken, für Verletzlichkeit wie für die Gefangenschaft. Ob im Käfig oder im Gefängnis. Außerdem ist Rinus, einer der Protagonisten, Vogelvertreiber auf dem Amsterdamer Flughafen. Eines Tages begeht Rinus’ Frau Marie Lina einen Mord. Es ist ein Racheakt. Der hat – wie schnell klar wird - mit einem anderen Mord zu tun, der über dreißig Jahre zurückliegt. Damals wurde ein alter Herr in einem Altenheim brutal umgebracht. Marie Linas Mutter war seine Putzfrau, hatte ihn liebevoll umsorgt. Unter Verdacht geraten legte sie damals aber ein falsches Geständnis ab und kam ins Gefängnis.

Wie ist es geschrieben?
Sprachlich bietet der Roman ein ganzes Spektrum an unterschiedlichen Stilen und Tonlagen. Von knappen Zweiwortsätzen und abrupten Berichten bis hin zu Passagen, die poetisch klingen fast wie Gedichte. Margriet de Moor macht Gefühle oder Stimmungen in Bildern fast körperlich spürbar. Darum ist dieser Roman auch gerade da spannend und eindringlich, wo wir schon wissen, was passieren wird. Wo wir nicht weiter lesen, um zu erfahren, was passiert, sondern wie das Geschehen erzählt wird.

„Wer singt, weint nie für sich allein. Wird nie vom Kummer um Dinge übermannt, die sind, wie sie sind, und an denen nun mal nichts zu ändern ist. Wer singt, fliegt über sein Verlangen hinweg, das ihm wie ein Schmerz im Leibe steckt, und wird zu einem Vogel.“

Wie gefällt es?
Ich habe „Von Vögeln und Menschen“ mit großer Freude gelesen. Das hängt auch mit der abwechslungsreichen und fragilen Erzählstruktur des Romans zusammen. Er geht nicht chronologisch vor, sondern springt vor und wieder zurück, staffelt die Zeitebenen übereinander und ineinander, wechselt die Erzählperspektiven und die Blickwinkel. Alles ist im Fluss. Aus den unterschiedlichsten Szenen und Berichten entsteht kein fertiges Bild, sondern ein sehr komplexes Erzählgewebe. Ganz großartig!

Margriet de Moor: Von Vögeln und Menschen, Hanser Verlag, 23 EUR, ISBN: 978-3446258198

hr-iNFO Büchercheck vom 01.03.2018


Antti Tuomainen: „Die letzten Meter bis zum Friedhof“
Der hr-INFO Krimi-Büchercheck begibt sich in eine kleine Stadt nach Finnland. Hier findet ein absurd-komischer, skurriler Krimi statt, der doch auch sehr ernsthaft die Themen Leben, Würde und Tod behandelt.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Jaako ist 37 Jahre alt, übergewichtig und verheiratet, er führt ein kleines Unternehmen und handelt mit Pilzen, die er nach Japan exportiert. Kieferduftritterlinge, japanisch Matsutake, das ist sein Geschäft. Und sein Lebensinhalt. Doch dann wird alles auf den Kopf gestellt: der Arzt erklärt ihm, dass er bald sterben wird, er ist vergiftet worden, und er entdeckt seine Frau inflagranti mit einem Angestellten. Von da an hat er nur noch ein Ziel: herauszufinden, wer ihn vergiftet hat. Außerdem hat sich im Ort eine Konkurrenz angesiedelt, Pilzhändler, die vom Geschäft nichts verstehen, aber ihn mit Dumpingpreisen kaputtmachen wollen. Jaako wird zum Kämpfer – auch zum Kämpfer gegen seine Krankheit, die ihn manchmal komplett niederstreckt. Der Roman ist aus der Sicht von Jaako geschrieben, der nicht davor scheut, mit sich selbst hart ins Gericht zu gehen. Aber zunächst macht er eine Liste

"Heute zu erledigen: Punkt 1: Mordermittlung / in Klammern: ich bin das Mordopfer. Punkt 2: Ermittlungen zum Thema Ehebruch / in Klammern: Taina vögelt Petri in unserem Sonnenstuhl der Firma Masku - wieder durchgestrichen. Punkt 3: als Folge des oben Genannten folgt: meinen Gesundheitszustand sowie meine Befindlichkeit verheimlichen. Vor allen. Der Schmerz kommt wieder überraschend. Es fühlt sich wie ein Stromschlag an, ich zittere, jede Zelle meines Körpers scheint betroffen zu sein. Ich sitze am Fenster, mit Blick auf den Tag, aber es ist dunkel. Ich habe das Gefühl zu schwanken, den Halt zu verlieren. Aber ich sterbe nicht."

Wie ist es geschrieben?
„Die letzten Meter bis zum Friedhof“ ist eine herrlich schwarze, actionreiche Krimi-Komödie. Viele nüchterne, lakonische Sätze, dann wieder fast absurd-komische Dialoge. Antti Tuomainen hat einen ganz eigenen Stil, temporeich, einfühlsam, den Witz nie bis zum Klamauk ausreizend. Übersetzt hat das Buch übrigens der Krimi-Autor Jan Costin Wagner zusammen mit seiner Frau Niina Katariina Wagner.

Wie gefällt es?
„Die letzten Meter bis zum Friedhof“ von Antti Tuomainen ist ein wunderbarer Krimi mit ganz viel Lebensklugheit, schwarzem Humor und einer leichten Traurigkeit. Das Buch schildert einen Mann im Kampf um sein Leben, sein Lebenswerk, aber vor allem um sein Recht auf die Wahrheit, doch ohne jeden Rachegedanken. Der dicke, vergiftete und betrogene Mann, der plötzlich merkt, wie lebendig er noch ist, so, wie er vorher nie gewesen. Ich hatte großen Spaß mit diesem Krimi, bei dem jeder Satz, jedes Wort, perfekt zu sitzen scheint. Eine schräge Geschichte, eine dringende Empfehlung.

Antti Tuomainen: "Die letzten Meter bis zum Friedhof". Rowohlt. 19,95 Euro.

hr-iNFO Büchercheck vom 22.02.2018

David Szalay: „Was ein Mann ist“
In Großbritannien hat es das Buch bis auf die Shortlist des renommierten Man Booker Preises gebracht. Man darf also ein paar Einsichten in das Wesen des Mannes erwarten.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
David Szalay lässt in seinem Buch – Kapitel für Kapitel - neun Männer auftreten. Vom jungen Erwachsenen bis zum Rentner am Ende seiner besten Tage, vom Billigtouristen bis zum gescheiterten millionenschweren Unternehmer auf seiner Luxusyacht, vom Bodyguard einer Edelprostituierten bis zum ehrgeizgetriebenen und skrupellosen Boulevard-Journalisten. Gemeinsam ist ihnen ihre europäische Herkunft. Und alle sehen wir in einer mehr oder weniger weichenstellenden Situation ihres Lebens, an verschiedenen Schauplätzen im Europa unserer Zeit. Sie versuchen Männerbilder zu leben, aber das gelingt, wenn überhaupt, nur zeitweise. Sie wollen zum Beispiel Frauen aufgabeln und landen in jämmerlichen Bettgeschichten. Sie wollen eine Frau erobern und trauen sich nicht. Sie suchen den Wettbewerb, sind Meister ihres Fachs, aber oft auch einfach Opfer ihrer Ängste. Zum Beispiel James, ein Londoner Immobilienmakler, der in den französischen Alpen nullachtfünzehn-Appartements als Luxusobjekte verkaufen soll und von einem Big Deal träumt.

"Während der letzten ein oder zwei Jahre überkam ihn immer wieder das bis dahin ungekannte Gefühl, den ganzen, bis zum Lebensende vor ihm liegenden Weg absehen zu können - schon zu wissen, was noch geschähe, und alles wäre absolut vorhersehbar und absolut banal. Das hatte er im Sinn gehabt, als er mit Paulette über das Schicksal diskutiert hatte. Die ist eine Chance, und wie viele Chancen, diesem Schicksal zu entrinnen, würde er noch bekommen?"

Wie ist es geschrieben?
Man könnte trefflich darüber streiten, ob dieses Buch tatsächlich ein Roman ist oder eine Sammlung von neun Kurzgeschichten. Keine der Figuren taucht in einer anderen Geschichte wieder auf. Nur einmal deutet sich eine Verwandtschaft von zwei Personen in unterschiedlichen Kapiteln an. Andererseits entsteht erst durch die Gesamtsicht auf die neun Personen ein Gesamtbild. Sozusagen ein Mann-Mosaik. Verbindend ist allemal der sparsame und doch sehr genau beschreibende Stil Szalays. Und sein feiner Humor, der immer wieder durchscheint. So entsteht aus den Bildern und der Handlung die Grundstimmung des Buchs, der Blues.

Wie gefällt es?
Ich fand es faszinierend, wie Szalay mich beim Lesen von Kapitel zu Kapitel immer tiefer in sein Buch herein gezogen hat. Die Personen erschienen mir wie nackt, als ob sie sich offenbaren müssten, ihre Fassade öffnen müssten, so dass man ihnen wirklich auf den Grund blicken kann. Man findet in diesem Buch keinen einzigen bewertenden Satz. Das findet nur im Kopf des Lesers statt.

David Szalay: "Was ein Mann ist“. Hanser Verlag. 24,00 Euro.

hr-iNFO Büchercheck vom 15.02.2018

Nickolas Butler: „Die Herzen der Männer“  
Nickolas Butler ist 38. Mit seiner Frau und zwei Kindern lebt er in Wisconsin. Sehr ländlich im Norden der USA. Auf Fotos präsentiert sich Butler als kräftiger, bärtiger Mann in Holzfäller-Hemden. Man könnte sagen, ein weißer Mann aus dem Herzen der USA, verwurzelt in der Landschaft, den Träumen und Legenden des Landes. So liest sich auch sein Roman. Seine Protagonisten sind Pfadfinder. Sie stehen  für die amerikanische Gesellschaft, für ihren Wandel bis hin zu Trump.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Männerherzen werden früh gebrochen, zumindest in diesem Roman. Väter schlagen und lassen ihre Familien sitzen, sie betrügen. Söhne und Mütter bleiben zurück. Freunde verraten, Kameraden demütigen, Freundinnen treiben es mit anderen. Stabilität bietet dagegen ansatzweise die Pfadfinderschaft mit ihren Regeln, Ritualen, Rollen und Rangordnungen. Und danach das Militär. Ein Netz für Desillusionierte und Verlorene. Hier finden die verlorenen Herzen scheinbar Halt, eine Illusion von Heldentum. Und sei es auch nur, um dann in unbarmherzigen Niederlagen den Grundboden zu finden für einen neuen Lebensansatz.  So geht es Nelson in den 60ern und 70ern und Trevor in den 90ern. Als Trevors Sohn Thomas nach der Jahrtausendwende im Pfadfindercamp ist, fällt auch das Pfadfindernetz in sich zusammen. Die Vorstellungen von Ehre und Pflicht, die Rituale: bestenfalls leere Hüllen. Thomas´ Mutter bringt es auf den Punkt:

„Der Welt, so scheint es, ist es heutzutage ziemlich egal, ob man ein Adler-Pfadfinder oder überhaupt ein Pfadfinder ist. Es dreht sich nur noch darum, wie viele „Follower“ man hat, wie perfekt der mit Selbstbräuner besprühte Waschbrettbauch aussieht und ob man genial genug war, ein Start-up Unternehmen an den Mann zu bringen, das auch nicht ein einziges nützliches Produkt auf die Beine gestellt hat.“

Männer sind in diesem Buch gezeichnete Wesen. Die Mütter sind die eigentlichen Heldinnen.

Wie ist es geschrieben?
Butler schreibt seine Männergeschichten mit viel Empathie für seine Protagonisten. Es sind beeindruckende Typen, die in sich in dem Buch den Staffelstab reichen. Und ihre Geschichten sind drastisch. Spannend, aber vor allem emotional. Die Leben der drei Figuren sind verkettet und fließen chronologisch ineinander, treiben sich an, die Handlung entwickelt einen Sog. Die Sprache ist eingängig, erleichtert den Lesefluss.

Wie gefällt es?
Wie in vielen US-amerikanischen Romanen sind auch hier die Charaktere zugespitzt. Manches Gute oder Böse wirkt ein wenig holzschnittartig. Mich hat das nicht gestört. Dafür sind die Figuren insgesamt zu stark. Sie können am Beispiel dieser Pfadfinderwelt gut vermitteln, wie ein Teil der amerikanischen Seele tickt, wie sie sich verändert und was sie verliert.

Nickolas Butler: „Die Herzen der Männer“ , Verlag Klett-Cotta, 22 EUR, ISBN: 9783608983135

hr-iNFO Büchercheck vom 08.02.2018

Adam Haslett: „Stellt euch vor, ich bin fort“
Die Bücher des us- amerikanischen Schriftstellers Adam Haslett wurden schon vielfach ausgezeichnet und in 18 Sprachen übersetzt. Sein neuer Roman "Stellt Euch vor, ich bin fort" wurde für den Pulitzer-Preis nominiert.

hr-iNFO Bücherchecker Alf Mentzer hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Es beginnt mit Margaret, die im London der 60er Jahre John trifft, ihn heiratet, obwohl sie kurz vorher erfahren hat, dass er unter wiederkehrenden Depressionen leidet. Sie bekommen drei Kinder, ziehen in die USA, wo John sich eines Tages das Leben nimmt. Aber das heimtückische Ungeheuer Depression, das John mit seinem Selbstmord zu zerstören hoffte, überlebt – es wendet sich dem ältesten Sohn Michael zu, der alsbald eine fatale Angststörung entwickelt und wieder ist die Familie mit einem Unglück konfrontiert, dass sie an die Grenzen der Belastbarkeit bringt und gleichzeitig aber auch zusammenschweißt.

„Alles in allem standen wir uns einander so nah, wie es unter Geschwistern nur möglich ist. Was bedeutete, dass wir die jeweiligen Verantwortlichkeiten gegenüber der Familie genau im Auge behielten und auf Anzeichen für Desertion lauerten wie Schiffbrüchige auf einer Insel – als baute jeder von uns heimlich an einem Floß, das der andere dann verbrannte.“

Extremes Leiden schafft extremen Zusammenhalt und sogar extreme Zärtlichkeit - diese paradoxe Struktur des familiären Unglücks ist es, was Haslett interessiert.

Wie ist es geschrieben?
Adam Haslett erzählt aus wechselnden Perspektiven. Jedes Familienmitglied rekapituliert seine Sicht der Dinge, treibt die Handlung weiter, relativiert oder entlarvt das zuvor Erzählte als Teilwahrheiten, als Wunschdenken oder als Projektion. Das macht die Spannung dieses Romans aus. Haslett gelingt darüber hinaus das Kunststück, für jede Figur einen eigenen Ton, einen eigenen Rhythmus zu finden: sei es melancholisch im Fall des depressiven John oder überspannt und streckenweise hochkomisch im Fall seines ältesten Sohnes Michael. Das Entscheidende aber ist, dass wir durchgehend nah bei den Figuren sind, dass ihre Erfahrungen, Ängste und Hoffnungen – so verrückt sie auch sein mögen, dennoch glaubwürdig bleiben. Haslett lässt uns das Wechselbad der familiären Gefühle miterleben, den Wunsch nach Unabhängigkeit genauso spüren wie Sehnsucht nach Geborgenheit.

Wie gefällt es?
Dieser Roman behandelt kein leichtes Thema, aber er ist nicht anstrengend zu lesen: Er entwickelt keine dramatische Handlung, und trotzdem reißt er unwiderstehlich mit. Das liegt am präzisen Stil und an der eindringlichen Sprache, das liegt an den Figuren, die komplex und glaubwürdig sind – man merkt, dass Haslett hier auch seine eigene tragische Familiengeschichte verarbeitet hat; es liegt aber vor allem daran, dass er die Institution Familie weder idealisiert noch karikiert, sondern als so komplex und widersprüchlich darstellt: als Halt und Heimsuchung in einem. Das auf so unaufgeregte und eindringliche Art zu erzählen, ist eine große Leistung eines großen Romans.

Adam Haslett: Stellt euch vor, ich bin fort, aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren, Rowohlt, 22,95 EUR, ISBN: 9783498030285

hr-iNFO Büchercheck vom 01.02.2018


Oliver Bottini: „Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens“
Oliver Bottini führt uns mit „Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens“ nach Rumänien, in ein Land, das von Landwirtschaft geprägt ist, der Boden aber längst nicht mehr den Rumänen gehört, sondern Deutschen, Österreichern, Saudis oder anderen Agrar-Multis. Oliver Bottini hat für dieses Buch den 1.Platz beim Deutschen Krimipreis 2018 bekommen.

hr-iNFO Büchercheckerin Karin Trappe hat den Krimi gelesen.

Worum geht es?
Lisa, eine 18jährige Deutsche, wird brutal ermordet. Sie ist die Tochter eines Mecklenburgers, der hier in Rumänien vor Jahren ein Gut gegründet und es nach seiner Heimat Neu-Prenzlin genannt hat. Unter Verdacht gerät der Landarbeiter Adrian Lascu, ein einfacher Junge, der sich in Lisa verliebt hatte und nun verschwunden ist. Womöglich abgehauen nach Deutschland, in die Heimat von Lisa, wohin diese auch wieder zurückkehren wollte. Kriminalpolizist Cozma, der eigentlich nur auf seine Pensionierung wartet, wird abkommandiert, den Fall zu lösen.

„Sie wissen, dass ich ihn nicht einfach so holen kann.“ sagte Cozma.
„Aber Sie können mit ihm reden.“
„Auch das nicht. Jedenfalls nicht offiziell.“
„Inoffiziell, als Abgesandter der Familie Lascu. Und wer weiß, vielleicht kommt er ja freiwillig mit Ihnen zurück.“
„Und wenn er lügt?“
Sie seufzte. Er mochte das Geräusch, es klang sanft, geduldig. „Fahren Sie nach Prenzlin, sprechen Sie mit ihm. Dann sehen Sie, ober er lügt oder nicht.“
Unwillkürlich fiel sein Blick auf die Äcker, die wenige Meter weiter am Ende der Straße begannen und sich entlang des Waldes und der Hügel Hunderte Meter weit hinzogen. Nicht um Lisa ging es, dachte er plötzlich. Sondern darum: Land.

Wie ist es geschrieben?
Oliver Bottini schreibt klar, nüchtern, präzise. Und doch gelingt es ihm, die Personen einfühlsam mit all ihrem erlebten Leid und ihren Hoffnungen zu charakterisieren. Er schildert Familiengeschichten und die Umbrüche in Ostdeutschland und Osteuropa nach 1989. Das macht Geschichte erlebbar und nah – hier ist es besonders das Schicksal rumänischer Grundbesitzer, die nicht nur ihr Land verkaufen müssen, sondern dabei auch noch betrogen werden.

Wie gefällt es?
„Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens“ von Oliver Bottini ist ein großes Buch über die Globalisierung, vor allem über die Folgen des Wirkens der Agrarkonzerne für die kleinen Menschen. Der Krimi hat mir einen Einblick in das Thema Landraub und Landkauf gegeben mit vielen Einzelheiten, von denen ich bislang nichts wusste. Korruption, Betrug, Machtmissbrauch – all das kennzeichnet noch immer die rumänische Gesellschaft, so schildert es der Krimi. Die Menschen haben zwar den unbändigen Willen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Aber es funktioniert nicht. Es bleiben Verluste, Trauer und Wut. Eine Wut, die einen Mord begründet.

Olivier Bottini: Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens. Krimi, Dumont-Verlag, 22 EUR, ISBN: 9783832197766

hr-iNFO Büchercheck vom 25.01.2018


Paolo Cognetti: „Acht Berge“
Der Premio Strega ist der renommierteste Literaturpreis Italiens. Im vergangenen Jahr ging er an Paolo Cognetti. Der wird dieses Jahr 40, hat bereits als Dokumentarfilmer gearbeitet und mehrere Erzählungen und Romane geschrieben. Den Preis bekam er für seinen Roman „Acht Berge“.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Der Roman hat zwei Themen, die parallel laufen. Zum einen die tiefe Freundschaft zwischen dem Stadtkind und dem Bergjungen. Wie sie zusammenfinden, voneinander lernen, in der Liebe zur Natur der Berge ihren gemeinsamen Nenner finden. Aber auch, wie sie ihre Naturbegeisterung in ganz unterschiedliche Berufe und Lebenswelten führt. Pietro bereist als Dokumentarfilmer die Welt und findet in der Bergwelt Nepals einen Fixpunkt. Für ihn sind die Berge eher ein Ort der Meditation, der Selbstfindung. Bruno wird Bergbauer und produziert Käse. Welcher Lebensweg ist der bessere zur eigenen Identität? Raus gehen in die Welt, Erkenntnisse an vielen Orten sammeln? Oder in der Heimat bleiben und dort die Herausforderung suchen? Cognetti präsentiert dafür ein Mandala, das Pietro von einem Bergführer in Nepal erfährt.

„Für uns ist der Mittelpunkt der Welt ein sehr hoher Berg, der Sumeru, der wiederum von acht Bergen und acht Meeren umgeben ist. Das ist unsere Vorstellung von der Welt“
„Bei uns heißt es immer: Wer hat mehr gelernt? Derjenige, der alle acht Berge gesehen, oder derjenige, der den Gipfel des Sumeru bestiegen hat?“
Einige Jahre sehen sich Pietro und Bruno nicht. Erst der Tod von Pietros Vater führt sie wieder zusammen. Pietro erbt eine ruinöse Berghütte, die er mit Bruno wieder aufbaut. Erst da wird ihnen bewusst, wie tief ihre Freundschaft ist.
Das zweite Thema des Romans ist Pietros Beziehung zu seinem Vater, ein schwieriges Verhältnis. Der Vater hat als Chemiker einen sozialen Aufstieg aus der bäuerlichen Welt geschafft, ist aber gespalten, fühlt sich nur in den Bergen bei sich. Die Gipfelstürmerei ist für ihn eine Art Leistungssport, eine Reinigung von der Stadtexistenz. Er schleppt Pietro mit auf die Gipfel, aber seine Getriebenheit entfremdet ihn von seinem Sohn. Das Erbe ist eine Art Versöhnung.

Wie ist es geschrieben?
Cognetti schreibt über die Sehnsucht nach Heimat, nach Authentizität. Er schreibt über die Faszination der Berge, über die Magie, die sie auf die Menschen ausüben. Aber auch über ihre Gefahren und ihre Gefährdung durch den Menschen. Er macht das in einer leisen, direkten Sprache. Stimmungen und Gefühle entstehen aus realistischen Bildern, aus Beobachtungen, Ereignissen und Handlungen. Das Erzählen ist reduziert auf das Wesentliche, wie die karge Alpenwelt. Daraus kommt die Kraft der Sprache.

Wie gefällt es?
Geschichten über Natur oder Heimat geraten schnell kitschig. Cognettis „Acht Berge“ ist davor gefeit. Sein Realismus schärft den Blick auf zeitlose Werte, die konstituierend sind für das Zusammenleben von Menschen und ihren Umgang mit ihrer Umwelt. Ich finde: ein wichtiges Buch für unsere wirre Zeit.

Paolo Cognetti: Acht Berge. Roman, DVA, 20 EUR, ISBN: 978-3421047786

hr-iNFO Büchercheck vom 18.01.2018


Valérie Zenatti: „Jacob, Jacob“
Valérie Zenatti, deren Familie aus Algerien stammt, wurde 1970 in Nizza geboren. Heute lebt sie als Schriftstellerin und Übersetzerin in Paris. Ihre Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt, zwei wurden verfilmt. Bisher schrieb Valérie Zenatti für Kinder und Jugendliche, ihr neuer Roman „Jacob, Jacob“ ist ihr erstes Buch für Erwachsene.

hr-iNFO Büchercheckerin Sylvia Schwab hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
„Jacob, Jacob“ spielt im Jahr 1944, Jacob ist ein junger Mann, 19 Jahre alt. Ein algerischer Jude, Sohn einer armen Schusterfamilie. Ein sensibler und intelligenter Kerl, ganz anders als alle Männer um ihn herum. Und dieser Jacob wird von der französischen Kolonialmacht einberufen, um in den Krieg gegen die Deutschen zu ziehen. Nach brutalem Drill in der algerischen Wüste geht es per Schiff nach Frankreich, erst in die Provence, dann in die Ardennen. Abwechselnd erfahren wir von Jacobs grausamem Fronteinsatz, von seiner Freundschaft mit Kameraden aller Religionen, von seinem Tod. – Und auf der anderen Seite von seiner Familie zu Hause, die ihre eigenen Tragödien ertragen muss.

Wie ist es geschrieben?
Valérie Zenatti einen ganz eigenen Stil: ihre Sätze wandern oder mäandern über viele Zeilen und spiegeln die unterschiedlichsten Emotionen. Sie reißen uns z.B. in das intensive Begehren einer verliebten jungen Frau hinein. Oder ziehen uns in Jacobs sehnsüchtige Träume von zu Hause. Sie stürzen explosionsartig durch die eigentlich unbeschreiblichen Kriegsszenen oder sie beschwören atemlos die Panik der jungen Soldaten im Nahkampf. Und sie erzählen von der Schönheit der Stadt und der Landschaft, in der Jacobs Familie lebt.

„Ein namenloses, heftiges Sehnen hat ihn hierhergeführt, auf den Gipfel des schroffen Bergs, in den mit Vogelkot durchsetzten Staub, inmitten von Zedern und schwarzen Zypressen, an denen der Blick hängen bleibt, ein paar Sekunden festgehalten wird, bevor er frei ins sonnenbeschwerte Tal schweifen darf. Aus dieser Entfernung wirken die Wasserfälle reglos, Schaumschleier, die nur hingetupft wurden um die Rinnen entlang der Schluchten zur Geltung zu bringen.“

Wie gefällt es?
Obwohl es ein ernster Roman ist, bedrückt er nicht, weil er den Ton so leicht wechselt, so farbig erzählt und nie bitter oder pathetisch geschrieben ist. Immer wieder taucht ein Bild auf, das man als Zentrum der Geschichte bezeichnen könnte: eine Hänge-Brücke, die zwei Teile der algerischen Stadt Constantine über einen Abgrund hinweg miteinander verbindet. Diese Brücke gibt es wirklich, eine grandiose Konstruktion, hier spielen wichtige Szenen. Und diese Brücke verstehe ich auch als Symbol für diesen Roman: er verbindet Vergangenheit und Gegenwart, Algerien und Frankreich, Juden, Christen und Moslems.

Valérie Zenatti: Jacob, Jacob. Roman, Schöffling Verlag, 20 EUR, ISBN: 978-3895614620

hr-iNFO Büchercheck vom 11.01.2018


Norbert Scheuer: „Am Grund des Universums“
Wenn ein Schriftsteller immer wieder eine kleine Gemeinde zum Schauplatz seiner Werke macht und dieser Schriftsteller auch ein guter Autor ist, dann wird aus dem Ort ein Ort der Literatur. In ihm verdichtet sich die Wirklichkeit, und die Poesie veredelt sie. Ich schwärme, das geht im Fall Scheuers. In seinem Kall entsteht nicht nur Welt, in diesem Buch sogar ein Universum: aus Leben und Träumen, aus Geschichten. Der Urschlamm liegt sozusagen auf dem Boden eines erfundenen Stausees in Kall.

hr-iNFO Bücherchecker Frank Statzner hat den Roman gelesen.

Worum geht es?
Zwei windige Investoren, ein unseriöser Bauunternehmer und ein überambitionierter Banker wollen ihren Ort aus dem Dämmerschlaf holen. Touristen sollen Geld in die Kassen spülen. Dafür soll der kleine alte Stausee vergrößert und allerlei touristisches Angebot geschaffen werden. Die Meisten im Ort haben Dollarzeichen in den Augen, verkaufen Grundstücke, geben Geld. Der Stausee wird abgelassen. Die Hinterlassenschaften vieler Jahrzehnte tauchen aus dem Schlamm auf. Relikte des Lebens, Stoff für Erinnerungen und Geschichten. Der Supermarkt ist der Mittelpunkt des Ortes. Hier trifft sich Scheuers Personal. Die Alten, die Jungen, die Mitarbeiter, die zugereisten Bauarbeiter. Scheuer erzählt die Geschichten dieser Leute. Zum Beispiel die des in Afghanistan schwer verletzte Bundeswehrsoldaten; die der jungen Frau, die zwar schreiben, aber nicht lesen kann; die des schwerkranken Elektrikers, der sich ein Raumschiff baut und damit ins Universums startet.

„Das Tal verengt sich kurz vor Kall, sodass sich die Gleise dicht neben Urft und Landstraße drängen. An die Sandsteinfelsen krallen sich Kiefern und Erlen, deren Zweige bis zur Flussmitte reichen. Aus den Bullaugen der Raumkapsel erblickte Lünebach Myriaden funkelnder Sterne, die über dem Stausee schwebten. Je höher er stieg, umso mehr erschienen ihm das Urftland und der See als Universum, das zu erkunden vielleicht ebenso reizvoll gewesen wäre wie Lichtjahre entfernte Welten. Durch eine Art Raum-Zeit-Krümmung konnte er den See zugleich in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft wahrnehmen. Seinen Berechnungen zufolge würde er am Ende seiner im Stausee landen.“   

Wie ist es geschrieben?
Scheuer schreibt die Geschichten dieser Leute in kurzen Kapiteln hintereinander auf. Parallel dazu läuft die Geschichte des Stauseeprojekts. Die Lebenswelten der Leute stehen für sich, sind aber alle miteinander dicht verwoben. Einige sind sogar aus früheren Romanen Scheuers. So entsteht in dem kleinen Ort ein Kosmos. Scheuer erzählt leise, fast nüchtern. Und gleichzeitig doch voller Empathie und Poesie. Es ist eine zarte, feinfühlige Prosa. Die Romanfiguren wachsen einem beim Lesen ans Herz.

Wie gefällt es?
Ein kleiner Ort als Schauplatz der Welt, als Resonanzboden vielfältiger Schicksale, realistisch und poetisch erzählt. So entstehen Bücher, die ich nicht vergesse.

Norbert Scheuer: „Am Grund des Universums“, Verlag C.H. Beck, 19,95 EUR, ISBN: 9783406711794

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